München – Göran Kauermann ist Direktor des Instituts für Statistik an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Er ist zudem Teil der „Covid-19 Data Analysis Group“ der Universität. Seiner Meinung nach braucht es neue Werkzeuge, um die Heftigkeit der Pandemie in Deutschland zu beschreiben. Er will weg von einer pauschalen Sieben-Tage-Inzidenz, die über Lockerungen und Verschärfungen entscheidet.
Herr Professor Kauermann: Wenn sich 49 von 100 000 Menschen innerhalb von sieben Tagen mit Corona infizieren, dürfen in Bayern alle Geschäfte öffnen. Bei 51 Neuinfektionen braucht man für den Hosenkauf einen Termin. Ist das wissenschaftlich nachvollziehbar?
Wo genau der Schwellenwert liegt, ist eine politische Entscheidung. Wichtig ist dabei aber etwas anderes: Die Sieben-Tage-Inzidenzwerte von heute sind nicht vergleichbar mit denen, die wir im November hatten.
Warum nicht?
Weil ganz andere Altersgruppen betroffen sind. Im November haben wir darauf hingewiesen, dass die damaligen Lockdown-Maßnahmen zwar für die jüngere Bevölkerung gewirkt haben. Bei den hochvulnerablen älteren Gruppen sind die Inzidenzen aber weiter in die Höhe geschossen.
Und heute?
Heute ist es genau andersherum. Bei den Hochbetagten gehen die Inzidenzen runter oder stagnieren. Das liegt neben den Schutzmaßnahmen wohl daran, dass viele Ältere geimpft sind. Bei den Jüngeren steigen die Inzidenzen hingegen – besonders bei Schulkindern. Das mag an den zusätzlichen Tests liegen oder auch an neuen Virus-Varianten. Aus statistischer Sicht ist die Zusammensetzung jedenfalls eine ganz andere. Und wenn man weiß, dass gerade hohe Infektionszahlen bei Hochbetagten zu vielen Sterbefällen geführt haben, kann man heute entspannter auf die Inzidenzwerte blicken als im November.
Spiegelt sich das denn auch in den Zahlen wider?
Ja. Die Todeszahlen gehen weiter runter. Auch in unseren Hochrechnungen über zukünftige Todeszahlen ist ein Abwärtstrend zu beobachten. Bei den Neuaufnahmen auf den Intensivstationen setzt sich weitestgehend ebenfalls ein Abwärtstrend fort. Und die Infektionszahlen bei den über 80-Jährigen sind rückläufig. Von einer Entspannung möchte ich noch nicht sprechen. Es gibt aber hinreichend viele Anzeichen dafür, dass das Krankheitsgeschehen sich verändert.
Woher genau kommen denn dann die steigenden Inzidenzzahlen?
Die Analyse zeigt, dass das weitestgehend von ansteigenden Infektionszahlen bei den Schülern getrieben ist. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Inzidenzen nicht das Infektionsgeschehen wiedergeben, weil es immer eine Dunkelziffer gibt. Wenn man nun in den Schulen viel testet, schwindet diese Dunkelziffer – und die Inzidenz steigt. Wir entdecken dort also heute Infektionen, die wir früher nicht bemerkt haben.
Bund und Länder bauen nun das Angebot an Schnelltests deutlich aus, dazu kommen Laientests. Verändert das nicht auch den Inzidenzwert?
Es ist zu vermuten, dass die Dunkelziffer damit weiter abnimmt. Wir haben das schon im Sommer gesehen, als Bayern die Autobahntests eingeführt hat, wurden im Vergleich zu anderen Bundesländern mehr Infektionen erkannt.
Kann der Inzidenzwert dann das Maß der Dinge sein?
Es hängt davon ab, was Sie wollen. Wenn Sie die Krankheit ganz verhindern wollen – Stichwort No Covid –, dann ja. Ich würde aber sagen: nein. Gerade mit dem sich verändernden Testgeschehen muss man viel flexibler und detaillierter auf die Zahlen schauen. In Österreich, wo massiv getestet wird, leben und arbeiten die Menschen mit deutlich höheren Inzidenzen, dennoch ist die Situation weitestgehend unter Kontrolle. Der deutsche Fokus allein auf die Inzidenz war schon im November nicht dienlich und ist es heute auch nicht.
Worauf sollten wir sehen?
Zunächst einmal sollten wir auch protokollieren, warum eine Person getestet wird, weil das klarere Erkenntnisse über die Dunkelziffer ermöglicht. Wir können zudem die aktuellen Todeszahlen nutzen und diese in die Zukunft hochrechnen. Das Maß der Dinge sind für mich aber die Neuaufnahmen in den Krankenhäusern und insbesondere auf den Intensivstationen. Ein entscheidender Wert, der bisher aber nicht allgemein zur Verfügung steht.
Die Politik braucht für ihre Maßnahmen aber eine griffige Zahl, an der sich die Menschen orientieren können.
Eine Möglichkeit wäre, sich dafür zumindest auf die Inzidenzen der derzeit tatsächlich vulnerablen Altersgruppe zu beschränken. Gerade Kinder haben fast immer milde Verläufe und ihre Infektionszahlen haben neuen Untersuchungen zufolge keinen Einfluss auf die Infektionszahlen in anderen Altersgruppen. Bei den über 80-Jährigen haben wir zudem absehbar eine Durchimpfung. Eine Inzidenz „35 plus“ wäre derzeit also ein sinnvollerer Wert – ab einem Alter von 35 bis zu 80 Jahren. Den Alterskorridor könnte man dann mit dem Impffortschritt dynamisch anpassen.
Interview: Sebastian Horsch