Das Buch der Schande

von Redaktion

Das Missbrauchsgutachten entlastet den Kölner Erzbischof Woelki – enthält aber schwere Anschuldigungen gegen den verstorbenen Kardinal Meisner und den Hamburger Erzbischof Heße. Heße bot dem Papst daraufhin seinen Rücktritt an.

VON CLAUDIA MÖLLERS

Köln/München – Eineinhalb Stunden etwa sitzt Rainer Maria Woelki an einem kleinen Tisch in der ersten Reihe des Maternus-Hauses in Köln und hört zu, wie zwei Rechtsanwälte den Umgang von hochrangigen Verantwortlichen des Erzbistums Köln mit Missbrauchsfällen beschreiben. Regelrechtes Chaos herrschte in den Amtsstuben der Erzdiözese. Akten wurden vernichtet, Geheimakten angelegt, Protokolle absichtlich nicht verfasst, um spätere Nachforschungen unmöglich zu machen.

Woelki hatte im Herbst 2020 die Veröffentlichung eines ersten Gutachtens der Münchner Kanzlei Westphal Spilker Wastl (WSWE) untersagt und eine neue Untersuchung in Auftrag gegeben – was in der deutschen katholischen Kirche ein regelrechtes Erdbeben ausgelöst hatte. Jetzt wird im Kölner Bildungshaus das Nachfolgegutachten der Anwaltskanzlei Gercke & Wollschläger präsentiert. Und ja, es fallen auch die Namen von Verantwortlichen, die sich schuldig gemacht haben. Wie Woelki es versprochen hatte.

Genannt werden die verstorbenen Kardinäle Joseph Höffner und Joachim Meisner. Vor allem Meisner. Der Vorgänger von Rainer Maria Woelki, der doch noch im Jahr 2015 als Ruheständler in einem Interview auf die Frage nach dem flächendeckenden sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche geantwortet hatte: „Nichts geahnt, nichts geahnt.“ Er habe sich das nicht vorstellen können.

Meisner hat gelogen

Heute, sechs Jahre später, beweist das Gutachten, dass der im Juli 2017 verstorbene Meisner gelogen hat. 24 von 75 festgestellten Pflichtverletzungen beim Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese aus den Jahren 1975 bis 2018 gehen auf das Konto von Kardinal Meisner.

Auch lebende Verantwortliche werden von Professor Björn Gercke, Fachanwalt für Strafrecht, namentlich genannt: Der frühere Kölner Generalvikar und Personalchef Stefan Heße (54), der heute Erzbischof in Hamburg ist und der elf Pflichtverletzungen begangen haben soll. Konkret soll Heße versäumt haben, kirchenrechtliche Voruntersuchungen zur Aufklärung von Missbrauchsvorwürfen einzuleiten. Und er soll einzelne Fälle entgegen der Vorschriften nicht nach Rom gemeldet haben. Wenige Stunden später bittet Heße den Papst um sofortige Entbindung von seinen Aufgaben (siehe Artikel rechts). Auch dem Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp (53), ein enger Vertrauter Meisners, sowie dem Chef des kirchlichen Gerichts in Köln, Günter Assenmacher (69), halten die Anwälte schwere Pflichtverletzungen vor.

Woelki indes, der nicht nur seit 2015 Meisners Nachfolger auf dem Kölner Erzbischofssitz ist, sondern 1990 dessen Geheimsekretär und 2003 von ihm zum Weihbischof geweiht worden war, können laut der Untersuchung der Anwaltskanzlei Gercke & Wollschläger keine Pflichtverletzungen nachgewiesen werden.

„Für uns wäre es ein Leichtes gewesen, den Kardinal zum Schafott zu führen“, sagte Professor Björn Gercke. „Aber die Aktenlage und die Befragung geben das nicht her.“ Woelki war vor allem ein Fall vorgeworfen worden, bei dem er einen befreundeten Priester, der des Missbrauchs beschuldigt wurde, nicht nach Rom gemeldet hatte. Der Betroffene sei aber damals bereits dement und nicht verhandlungsfähig gewesen, betont Gercke. Auch der Heilige Stuhl sei zu diesem Ergebnis gekommen.

Und so kann der Kölner Kardinal eineinhalb Stunden später auf das Podium treten, das 800-seitige Gutachten in Empfang nehmen und zu einem Überraschungsschlag ausholen. Noch an Ort und Stelle entbindet er Weihbischof Schwaderlapp und Offizial Assenmacher vorläufig von ihren Aufgaben. Schwaderlapp bietet wenig später dem Papst seinen Rücktritt an.

Woelki will die Ergebnisse des Gutachtens an diesem Morgen das erste Mal gehört haben. „Höchste Verantwortungsträger – auch meine Vorgänger – haben sich vielfach klar schuldig gemacht“, sagt er in seiner Stellungnahme. „Nichts geahnt“, das zu sagen wäre heute nicht mehr möglich, fügt er mit einem Seitenhieb auf seinen Vorgänger Meisner hinzu.

202 Täter, 314 Opfer

Für die Jahre 1975 bis 2018 verzeichnet die Untersuchung 202 Beschuldigte, davon knapp zwei Drittel Kleriker. Die Zahl der Betroffenen beläuft sich auf 314. In 24 der insgesamt 236 ausgewerteten Aktenvorgänge stellen Gercke und sein Team Pflichtverletzungen von Amtsträgern entsprechend den staatlichen oder kirchlichen Rechtsnormen fest. Dazu gehört zum Beispiel, einem Verdacht nicht nachzugehen, keine Ermittlungen aufzunehmen oder strafbares Verhalten nicht zu sanktionieren.

Die Auswertung der Akten hat laut Gercke ergeben, „dass sich Jahrzehnte offenbar niemand getraut hat, solche Fälle zur Anzeige zu bringen“. Es habe immer wieder Bestrebungen von einzelnen Verantwortungsträgern gegeben, Fälle sexuellen Missbrauchs nicht öffentlich werden zu lassen. Man sei bestrebt gewesen, sie nicht an „die große Glocke“ zu hängen, um Reputationsschaden von der Kirche abzuwenden. Kardinal Meisner habe über solche Fälle eine Geheimakte geführt mit der Aufschrift „Brüder im Nebel“. Dabei stellt Gercke klar, dass das Erzbistum Köln kein Einzelfall sei: „Ich bin mir nicht sicher, ob Sie bei diesen Maßstäben in Deutschland ein Bistum finden, in dem wir keine Pflichtverletzungen festgestellt hätten.“

Kritik der Betroffenen

Als „Freispruch“ für Kardinal Woelki bezeichnet der Sprecher der Betroffenen-Initiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, das Kölner Missbrauchsgutachten. „Was man bestellt hat, hat man bekommen“, sagt er. Das Gutachten kläre weder moralische noch kirchenrechtliche Fragen. Katsch kritisiert, dass die Perspektive der Betroffenen für die Erstellung des Gutachtens keine Rolle gespielt habe. Das Gutachten sei kein Ersatz für Aufarbeitung. Diese müsse erst noch geschehen.

Rainer Maria Woelki will nun das Gutachten erst einmal studieren. Und dann weitere personelle Konsequenten ziehen.

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