„Trägheit ist ein Merkmal der Ära Merkel“

von Redaktion

INTERVIEW Julian Nida-Rümelin spricht über deutsche Probleme im Kampf gegen die Pandemie

München – Julian Nida-Rümelin, 66, war Kulturstaatsminister im Kabinett von Gerhard Schröder. Er lehrt Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Direktor am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. Zusammen mit der Kulturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld hat er das Buch „Digitaler Humanismus“ verfasst. Im Interview kritisiert er die deutsche Digitalstrategie im Kampf gegen Corona.

Herr Nida-Rümelin, wann haben Sie zuletzt einen Blick auf die Corona- Warn-App auf Ihrem Smartphone geworfen?

Ich schaue regelmäßig drauf und sehe diese nichtssagenden Mitteilungen über Kontakte mit niedrigem Risiko. In letzter Zeit kommen aber selbst die immer seltener. Ich habe schon sehr früh gesagt, dass diese App in der Pandemiebekämpfung nicht funktioniert. Lediglich bei 11 bis 15 Prozent der registrierten Corona-Infektionen kommt sie zum Einsatz. Sie hilft nicht bei der Nachverfolgung des Infektionsgeschehens, sie identifiziert keine Infektionscluster, sie liefert nicht das, was wir bräuchten.

Was bräuchten wir denn?

Ich wünsche mir eine App, bei der jeder Nutzer eine pseudonyme Kennung erhält, die auf einem zentralen Server gespeichert ist. Dieser Server generiert zusätzlich kurzlebige anonyme Kennungen, die dann den Mobiltelefonen zugespielt werden. Im Falle einer Infektion werden automatisch alle Kontaktpersonen informiert. Und wenn das Resultat falsch positiv war, kann auch sofort wieder korrigiert werden. Das wird bei den nun ausgeweiteten Schnelltests und Selbsttests von großer Bedeutung sein. Schon deshalb spricht alles für einen zentralen Server. Vor allem aber müssen die Gesundheitsämter von einer Corona-App effektiv bei der Kontaktverfolgung entlastet werden. Das ist bei der aktuellen staatlichen Corona-App nicht der Fall.

Warum haben wir keinen zentralen Server?

Die Bundesregierung wollte laut Gesetzentwurf vom 20. März des vergangenen Jahres eine zentrale Corona-App nach dem Vorbild Südkoreas. Als die öffentliche Debatte losging, ist sie aber in drei Schritten zurückgewichen: Die App sollte nun nicht mehr wie in Südkorea verpflichtend sein, sondern freiwillig. Statt einer zentralen wurde ein dezentrale Lösung gewählt. Und alles sollte so datensparsam wie möglich sein.

Keine gute Entscheidung?

Manche Verteidiger des Datenschutzes sind zufrieden. Daneben steht aber die Bilanz der Krise: Über 70 000 Todesfälle, 500 000 zusätzliche Arbeitslose, vernichtete Existenzen, ein deutlicher Anstieg psychischer Erkrankungen in Deutschland. Dagegen weniger als 1000 Todesfälle in Südkorea, das nach China das zunächst am stärksten betroffene Land war – und nicht etwa autoritär, sondern sozial-liberal regiert wird. Es ist ohne Shutdown durch die Krise gekommen und die Ökonomie ist in guter Verfassung geblieben.

Stimmt also in Deutschland die Abwägung nicht?

Sie ist nicht kohärent. Wir schränken so gut wie alle unsere Grundrechte massiv ein – die Freiheit der Berufsausübung, das Eigentumsrecht, die Versammlungsfreiheit, die Mobilitätsfreiheit. Wir nehmen das in Kauf. Nur in einem Bereich darf es keine Einschränkung geben: beim Datenschutz. Obwohl ich die Praxis des Daten-Missbrauchs von jeher kritisiere, die die Unternehmen aus dem amerikanischen Silicon Valley zum Geschäftsmodell gemacht haben, sage ich in diesem Fall: Das leuchtet mir nicht ein.

Hätte eine zentrale Corona-App denn den Datenschutz verletzt?

Kluge Juristen sagen mir, dass die zentrale Lösung gesetzlich durchaus möglich gewesen wäre. Es müsste garantiert sein, dass die Bewegungsdaten, wie in Südkorea, nach 14 Tagen wieder gelöscht werden. Die Datenschutzpraxis in Deutschland ist nicht überzeugend ausbalanciert.

Wie meinen Sie das?

Es gibt eine Asymmetrie zwischen dem laxen Datenschutz privater Anbieter und der hohen Zurückhaltung gegenüber Einrichtungen wie Gesundheitsämtern. Sogar der Versand von Einladungen für Impftermine wurde dadurch behindert. Das Alter der Empfänger musste anhand ihrer Vornamen geschätzt werden, weil die in den Behörden verfügbaren Daten für den Versand nicht genutzt werden durften. Mit Facebook gehen wir aber groteske Verträge ein, ohne sie auch nur zu lesen. Wir liefern privateste Daten an private Konzerne, ohne wirklich beurteilen zu können, was mit diesen geschieht. Da läuft etwas schief.

Wenn der Staat etwas will, sind die Bürger misstrauischer?

Na ja. Wenn Sie daran denken, wie viele sensible Daten bei Finanzämtern, Gesundheitsämtern oder Krankenkassen ohnehin auflaufen, haben die Menschen doch eigentlich ein erstaunliches Vertrauen, das auch gerechtfertigt ist. Genau deshalb verstehe ich nicht, dass wir in einer pandemischen Lage so ängstlich vorgehen.

Was halten Sie von Kontaktverfolgungs-Apps wie „Luca“, mit denen sich Gäste digital im Café registrieren können und im Infektionsfall anonym benachrichtigt werden?

Luca greift genau das auf, wofür ich seit vielen Monaten plädiert habe – nämlich die Zettelwirtschaft zu beenden und stattdessen QR-Codes zu nutzen, über die man sich einloggen kann. Es ist gut, dass das jetzt als privates Angebot auf den Markt kommt. Es zeigt aber auch, wo der Staat versagt hat. Denn die Idee, QR-Codes für die Kontaktverfolgung in Lokalen oder bei Veranstaltungen einzusetzen, ist so naheliegend, dass man sich wundert, dass es ein Jahr dauert, bis wir so weit sind. Zumal die bisherige Zettelwirtschaft extrem problematisch ist. Frauen beschweren sich, dass sie von Fremden angerufen werden, nachdem sie ihre Handynummer in eine im Restaurant ausliegende Liste eingetragen haben. Wenn etwas den Datenschutz verletzt, dann doch das.

Neben der Corona-App gibt es noch mehr digitale Problemfälle in der deutschen Pandemie-Bekämpfung. Die Impfkampagne wird mit Excel-Listen verwaltet, weil es kein Logistik-Programm gibt. Haben wir den Anschluss verloren?

Da ist das Bild ambivalent. Wir haben noch immer exzellente Unternehmen mit exzellenten technischen Produkten. Das Problem in Deutschland ist die Trägheit – vor allem in der öffentlichen Verwaltung, aber sie ist leider auch ein generelles Merkmal der Regierungszeit Merkels. Eine zweite Hürde besteht zudem in der mittelständischen Wirtschaft. Die ist mit vielen sogenannten Hidden Champions sehr gut aufgestellt. Bei der digitalen Transformation tun sich diese Unternehmen aber schwer. Sie haben ihre bewährten Praktiken, arbeiten weltweit bewundert mit hoher Produktivität. Nun wollen sie nicht in Abhängigkeit geraten, ihre Daten nicht rausgeben und sich nicht ohne Weiteres großen Tech-Unternehmen anvertrauen. Das kann man verstehen, aber auf diese Weise kommt die Digitalisierung zu langsam voran.

Lassen sich diese Hürden auflösen?

Ich glaube schon. Dass Deutschland, das noch vor zwei Jahren vom Davoser Wirtschaftsforum als innovativste Ökonomie der Welt ausgezeichnet wurde, sich hier dermaßen blamiert, wird etwas auslösen. Ich erwarte eine Schockwirkung.

Was muss nun passieren, damit Deutschland digital nicht abgehängt wird?

Es hapert hierzulande oft an der wirtschaftlichen Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die MP3-Technologie wurde in einem deutschen Fraunhofer-Institut entwickelt – aber kein Unternehmen in Deutschland hat sich damals dafür interessiert. Das muss sich ändern. Zudem müssten wir in Europa den nächsten Schritt gehen und eine digitale Kommunikationsinfrastruktur in öffentlich-rechtlicher Verantwortung aufbauen.

Eine Art EU-Google?

Telefonleitungen, Autobahnen, Straßen – das war alles immer in staatlicher Hand, damit sich die Wirtschaft in diesem politisch gestalteten Rahmen entfalten konnte. Im Digitalen stellen diese Infrastruktur nun private US-Unternehmen wie Google, Facebook, Microsoft, Apple, Amazon – und die wirtschaftlichen und privaten Akteure sind darauf auf Gedeih und Verderb angewiesen. Wir haben aber als EU die ökonomische Macht, einen eigenen Weg zu gehen. Die schönen EU-Deklarationen müssen nun mit Leben gefüllt, in konkrete Maßnahmen und Projekte überführt werden.

Interview: Sebastian Horsch

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