Amerikas neue Krise an der Grenze

von Redaktion

VON FRIEDEMANN DIEDERICHS

Sasabe – Die Fahrt in den Grenzort Sasabe im US-Bundesstaat Arizona führt durch Wüstenvegetation. Vorbei an den berühmten Saguaro-Kakteen und ein paar Schildern, auf denen eine „humane border“ gefordert wird – eine „menschliche Grenze“. Aufgestellt haben die Mahntafeln Aktivisten, um auf die Risiken aufmerksam zu machen, die Migranten aus Mittel- und Südamerika lange Zeit eingehen mussten. Wer sich im Sommer für den tagelangen Fußmarsch Richtung USA bei Temperaturen von bis zu 50 Grad entschied, um der „Border Patrol“, dem US-Grenzschutz, zu entgehen, dem drohte der Tod durch Hitzschlag oder Verdursten.

Ein solches Wagnis muss derzeit niemand mehr eingehen, der ohne Papiere den Weg ins gelobte Land sucht. Als Joe Biden am 20. Januar sein Amt antrat, änderte er umgehend die Migrationspolitik. Biden stoppte den von Donald Trump begonnenen Bau eines Grenzzauns zu Mexiko. Und noch zwei Änderungen ordnete er an. Erstens: Asylsuchende aus Zentralamerika müssen den Ausgang des Verfahrens nicht mehr in Mexiko abwarten, sondern dürfen einreisen. Zweitens: Unbegleitete Minderjährige dürfen nicht mehr abgewiesen werden.

Gute Nachrichten für Migranten – die sich schnell herumsprachen. Viele Eltern schicken ihre Kinder voraus. Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen ist derzeit vier Mal so hoch wie noch im Herbst. Prognosen gehen von 120 000 unbegleiteten Kindern aus, die 2021 an der Grenze auftauchen werden (siehe Kasten) – und in Notunterkünften versorgt werden, die unter Trump noch im Kreuzfeuer der Demokraten standen. US-Medien sprechen von mindestens 15 000 Minderjährigen im Gewahrsam der US-Grenzbehörde.

Der Politikwechsel lässt sich gut in Sasabe ablesen. Ganze neun Einwohner zählt die abgelegene Siedlung. Da am dortigen Grenzübergang auch Dutzende Beamte arbeiten, gibt es in Sasabe sogar ein Postamt, zwei Sprit-Zapfsäulen, eine kleine Kirche und einen knallgelb angestrichenen „General Store“, eine Art Krämerladen.

Den betreibt in der vierten Generation Debra Grider. Die Frau mit deutschen Vorfahren kennt die Lage vor Ort genau. „Fahren Sie mal den Grenzzaun lang ein paar Kilometer Richtung Westen“, schlägt sie vor, „dann sehen sie schon, was ich meine.“ Nach wenigen Minuten auf der staubigen Schotterstraße entlang des Stahl-Ungetüms, an dem noch bis Mitte Januar gearbeitet wurde, beginnt der Mauer-Friedhof. Alle 300 bis 400 Meter finden sich Stapel von Stahlmaterialien, die für den Weiterbau der Grenzbefestigung herangefahren wurden, aber für die es nun keine Verwendung mehr gibt. Der bisher gebaute Zaun folgt dem teils bergigen Gelände wie auf einer Achterbahn. An mehreren Stellen wurden sogar Felsen weggesprengt, um die Stahlsegmente in gerader Linie einbetonieren zu können. Nach wenigen Kilometern hat der Stahlzaun ein abruptes Ende.

Debra Grider berichtet von Lücken im Schutzsystem, die von gut bezahlten Schleusern, „Coyotes“ genannt, und den Drogenkartellen genutzt werden. Jede Woche kommen, so sagt sie, ganz in der Nähe von Sasabe hunderte Migranten unerlaubt ins Land. Manche tragen in Mexiko verteilte T-Shirts. „Biden, bitte lass uns rein“, steht darauf. Mexikos Präsident Manuel Lopez Obrador nannte Biden kürzlich sogar den „Migranten-Präsidenten“.

Zwar versichern der Präsident und das US-Heimatschutz-Ministerium, die US-Grenze sei weiter „geschlossen“ und von den 100 000 Menschen, die im Februar beim illegalen Grenzübertritt gestellt worden seien, seien fast alle Erwachsenen ausgewiesen worden. Rund um Sasabe aber geben sich illegale Grenzgänger keine große Mühe mehr, den immer noch Streife fahrenden Cops zu entkommen. Denn sofort zurückgeschickt wird hier, wenn es sich um Asylsuchende und Minderjährige handelt, derzeit nur, wer nachweislich auf US-Boden eine Straftat begangen hat oder als Gefährder gilt.

Gerade bei Müttern mit kleinen Kindern drücken die Beamten häufig ein Auge zu. Etwa bei Amanda Garcia. Die 22-Jährige aus Guatemala querte an einem anderen Ort illegal die Grenze und bekam für sich und ihre zwei Kinder vorläufige Papiere. Sie will bei Verwandten in Dallas unterkommen und sagte unter Tränen: „Es ist ein Glück, dass sie mir eine Tür geöffnet haben, damit ich vorwärts kommen kann.“

Die Kritiker Bidens, allen voran die Spitze der Republikaner, sprechen von einem vollständigen Versagen der Führung. Das Weiße Haus hingegen argumentiert, man gehe das Migrationsproblem humaner an – und der Übergang brauche eben Zeit.

Biden wies die Kritik am Donnerstag erneut zurück. Es handele sich um einen saisonalen Anstieg der Migrantenzahlen zwischen Januar und März, sagte er bei seiner ersten Pressekonferenz seit seiner Amtsübernahme. „Das passiert jedes Jahr.“ In den ersten Monaten des Jahres, so Biden, könnten die Migranten „mit der geringsten Wahrscheinlichkeit reisen, auf dem Weg wegen der Hitze in der Wüste zu sterben“. Der Präsident verwies darauf, dass er seine Stellvertreterin Kamala Harris beauftragt habe, mit Ländern wie Guatemala und Honduras die Bekämpfung von Fluchtursachen zu verstärken.

Der anschwellende Strom von Migranten setzt die Biden-Regierung unter Druck. US-Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas rief dazu auf, sich nicht auf den Weg Richtung USA zu machen. „Kommt nicht, die Grenze ist geschlossen“, sagte er US-Medien. Mexiko will die illegale Migration ebenfalls eindämmen und setzt dafür 8700 zusätzliche Soldaten ein. Denn nicht nur Mexikaner hoffen auf ein besseres Leben in den USA. Mexiko ist Durchgangsland für Migranten vor allem aus Honduras, Guatemala und El Salvador ( Artikel rechts).

Wie angespannt die Lage ist, zeigt sich auch bei den Grenzpolizisten, die den Journalisten auf seiner Fahrt entlang des Zauns stoppen. Auf die Fragen, wie stark die illegalen Übertritte unter Biden gestiegen sind und ob sie das als „Krise“ bezeichnen würden, gibt es keine Antwort. Auch nicht auf die Frage, was mit dem Stahlmüll geschehen soll, der sich entlang des unfertigen Zauns stapelt. Der von der Biden-Regierung bei diesem sensiblen Thema verhängte „media blackout“ zeigt Wirkung. Auch Besuche in Aufnahmelagern sind Journalisten strikt verboten.

Fest steht: Das Aufnahmelager in Sasabe, durch dicke Planen vor neugierigen Blicken geschützt, kann den Ansturm nicht bewältigen. Deshalb öffnet sich in regelmäßigen Abständen das Tor und fensterlose Transporter machen sich mit menschlicher Fracht auf den weiten Weg in den Nachbar-Bundesstaat Texas und die Metropolen Dallas und Houston. Dort werden gerade in Eile neue Unterkünfte vor allem für Minderjährige geschaffen.

Anders als in anderen US-Grenzorten wird in Sasabe kein Neuankömmling auf freien Fuß gesetzt, denn es gibt hier keine öffentlichen Transportmittel und schon gar keinen „Greyhound“-Busbahnhof. Die Migranten werden in den Grenzschutz-Gebäuden auf Covid-19 getestet. Während Trump fast alle Asylsuchenden mit Verweis auf die Pandemie abwies, gibt es nun bei einem positiven Test Berichten zufolge oft nur eine Schutzmaske – und ein Aufklärungsblatt mit den wichtigsten Fakten zum Virus und den Sinn einer Quarantäne. All dies beruht auf Freiwilligkeit – und der Hoffnung der Biden-Regierung, Migranten würden später bei einem abgewiesenen Asylverfahren nicht untertauchen.

Debra Grider lässt die politische Debatte eher kalt. Für ihren seit über 80 Jahren existierenden Laden wird sich nichts ändern. Sie akzeptiert, das verkündet ein Schriftzug auf der Fassade des Geschäfts, neben dem US-Dollar auch den mexikanischen Peso. Ob legal oder illegal im Land – der Kauffrau ist jeder Kunde recht.  mit dpa & afp

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