Das Schicksal der Verschickungskinder

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH

Garmisch-Partenkirchen – Friederike sitzt vor einem Teller mit unansehnlicher Pampe, die sie hier Suppe nennen. Sie ekelt sich davor. „Das wird alles aufgegessen“, schnauzt die Erzieherin. Sie heißt Friedel ist noch jung – und eiskalt. Friederikes Mutter ist noch keine Stunde weg und die Sechsjährige ahnt bereits, dass sie und ihre kleine Schwester Heide in der Hölle gelandet sind. „Ich wusste, hier gibt es kein Entkommen“, sagt sie heute, fast sieben Jahrzehnte später. Unter dem strengen Blick der Erzieherin zwingt sie sich dazu, die Pampe zu essen. Die dreijährige Heide schafft das nicht, ihr Bauch ist voll mit Tränen und Angst. Friederike fleht sie an zu essen. Schon nach ein paar Löffeln erbricht Heide alles auf ihren Teller. Das ist verboten, hier im Kinderheim Schmalensee in Mittenwald. Genauso wie aufstehen, weinen oder das Essen verweigern. Die Erzieherin zwingt Heide, ihr Erbrochenes zu essen. Dann bekommt sie noch einen Schöpfer Suppe zusätzlich auf den Teller geklatscht.

Heide Henkel ist heute 71. Die Erinnerungen hatte sie tief in ihrer verletzten Seele weggesperrt. Sie musste erst erwachsen werden, um aufarbeiten zu können, was sie damals im Kinderheim erlebt hat. Darüber zu sprechen, fällt ihr heute noch schwer. Sie hat es noch nicht oft getan – nicht mal mit ihrer Schwester Friederike. Neulich hat sie sich hingesetzt und ihre Erinnerungen aufgeschrieben. Vier Seiten sind es geworden. Sie hat das nur geschafft, weil sie in dem Text auf das „ich“ verzichtet hat. Sie schreibt von einem Kind, das sich erinnert. Als ob es fremde Erinnerungen wären.

Heide Henkel und ihre Schwester Friederike waren Verschickungskinder. So nannte man die acht bis zwölf Millionen Kinder, die zwischen 1945 und 1990 auf Erholungskuren geschickt wurden. Sie waren zu mager oder ständig krank. Deshalb verschrieben Ärzte die Kuren, die Krankenkassen finanzierten sie. Doch statt erholt kamen die meisten Kinder schwer traumatisiert zurück. Sie wurden zum Essen gezwungen, gedemütigt, geschlagen. Einige Kinder kamen sogar ums Leben. Diese Verbrechen sind bis heute nicht aufgearbeitet. Weil viele Menschen jahrzehntelang weggesehen haben. Weil viele Kinder so wie Heide Henkel lange nicht über die schlimmen Erlebnisse sprechen konnten.

Es gibt ein einziges Foto aus dieser Zeit. Kein Kind lacht darauf. Auch die beiden Erzieherinnen nicht. „Jahrelang konnte ich dieses Bild nicht ansehen“, erzählt Henkel. Sie hat es mit ihren Erinnerungen weggesperrt. Erst durch die Therapie, die sie als erwachsene Frau machte, merkte sie, dass sie ihre Kindheitserinnerungen aufarbeiten muss. Sie stellte sich das Foto auf, blickte stundenlang das kleine Mädchen an, das so verletzt in die Kamera blickt. „Es hat lange gedauert, bis ich mich in diesem Kind wiedergefunden habe“, sagt sie heute.

Die beiden Schwestern haben die Zeit in Mittenwald nicht zusammen durchgestanden. Sie wurden nach dem ersten Mittagessen getrennt. Aber sie erlebten dasselbe. Morgens wurden sie in den kalten Keller geschickt, mussten sich dort nackt ausziehen und wurden mit einem Gartenschlauch kalt abgespritzt, erzählen sie. Für alles wurden ihnen Schläge angedroht. Besonders die Buben seien ständig verdroschen worden, berichtet die heute 75-jährige Friederike. „Mein Zehennagel war eines Tages eingewachsen“, erinnert sie sich. Ein Arzt habe ihr damals einfach mit einem Messer in den Fuß gestochen. „Ich hatte Todesangst“, sagt sie. Noch eine andere Szene konnte sie nie vergessen. „Ein Junge war Bettnässer“, erzählt sie. Er musste sich in die Mitte des Raumes stellen. „Wir Kinder wurden aufgefordert, um ihn herum zu laufen, ihn zu beschimpfen und zu bespucken.“

Heide Henkels Erinnerungen sind verschwommener. Weil sie damals erst drei war. Aber sie sind genauso schmerzhaft. Sie erinnert sich vor allem an die Zeit nach ihrer Rückkehr. Die vielen Panikattacken und Albträume, die sie danach durch die Kindheit begleiteten. „Ich war nur noch ein Bündel Angst.“ Ihre Eltern hatten keine Fragen gestellt, als sie die Kinder am Ostersonntag in Mittenwald abholten. „Sie hatten einen Korb mit Ostereiern dabei“, erinnert sich Friederike. Als ihre Mutter ihnen die Eier zeigte, übergab sich die Sechsjährige im Auto. „Ich konnte kein Essen mehr sehen, ohne dass mir schlecht wurde.“ Nie wurde bei ihnen zu Hause in Fulda darüber gesprochen, was in dem Heim passiert war.

Auch gesellschaftlich wurde über die Vorfälle in den Verschickungsheimen immer geschwiegen. Bis heute gibt es kaum Anlaufstellen für Betroffene. Auch politisch ist nie aufgearbeitet worden, was die Kinder damals durchmachen mussten. Ein Antrag der SPD, der das forderte, ist vor Kurzem im Landtag abgelehnt worden.

Heide Henkel hat sich ganz bewusst dazu entschieden, über ihre Zeit als Verschickungskind zu sprechen. Nicht weil sie auf Gerechtigkeit hofft. Dafür sei es zu spät, sagt sie. Viele der Erzieher von damals würden nicht mehr leben. „Aber so etwas wie damals darf nie wieder passieren“, sagt sie.

Es ist ein Zufall, dass sie ausgerechnet in die Region gezogen ist, die sie mit ihren schlimmsten Erinnerungen verbindet. Henkels Mann stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Es ist erst ein paar Jahre her, dass sie zu dem ehemaligen Kinderheim Schmalensee nach Mittenwald gefahren ist. Es steht heute leer. In welcher Hand es damals war, weiß die 71-Jährige nicht. Als sie nach so vielen Jahrzehnten wieder an dem alten Jägerzaun stand, sah sie nicht nur das große Gebäude – sondern auch die grünen Wiesen, die Berge im Hintergrund, die Tannen. Sie sah nicht die Hölle von damals – sondern einen zauberhaft schönen Ort. Nachdenklich sagt sie: „Kinder hätten hier sehr glücklich sein können.“

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