München – Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt ein kleines Mädchen mit Zöpfen, das neben einem Pony steht. Dieses Mädchen ist Sabine Zeis. Sie lebt in Norddeutschland. Das Bild ist 1966 in Schönau im Berchtesgadener Land entstanden, wo Sabine Zeis als Kind zur Kur war. „Sabine gefällt es hier gut“, steht auf der Karte, die ihre Eltern damals bekamen. „An den beiden Ponys hat sie großen Spaß.“ Sabine Zeis hat die Karte ihr Leben lang aufgehoben. „Das ist nicht meine Schrift“, sagt sie. „Das hätte ich nie geschrieben.“ Die Erzieherinnen haben die Karten an die Eltern oft selbst geschrieben. Nicht nur in Schönau.
Heute engagiert sich Zeis für die Initiative Verschickungskinder – die einzige Anlaufstelle für Betroffene, die es bisher gibt. Sie wurde nach einem Treffen von ehemaligen Verschickungskindern auf Sylt gegründet – das ist gerade mal zwei Jahre her. Danach entstand eine Webseite, Landesgruppen und in zwei Bundesländern auch Selbsthilfegruppen. „Wir bekommen unendlich viele Anfragen von Betroffen“, sagt Zeis. Manchmal findet sie in ihrem Postfach 30 Mails an einem einzigen Tag.
Ohne das Internet wären die ehemaligen Verschickungskinder wohl noch längst nicht vernetzt, glaubt Zeis. „Sehr viele dachten, dass nur sie während ihrer Kur so schlimme Dinge erlebt haben.“ Sie hatte damals für sich selbst angefangen, ihre schlimmen Erinnerungen an Schönau aufzuarbeiten, suchte nach anderen Betroffenen – es wurden immer mehr. Fast alle haben die selben schlimmen Erinnerungen an ihre Zeit als Verschickungskind. Auch ihre Briefe nach Hause wurden zensiert. Sie kehrten traumatisiert zurück – und sprachen Jahrzehnte nicht über das, was sie erlebt hatten. Viele Eltern hinterfragten nichts. Vielleicht, weil sie in einer Zeit groß geworden waren, in der es selbstverständlich war, Autoritäten blind zu folgen, vermutet Zeis. „Viele Kinder waren auch viel zu klein, um zu berichten.“
Die Erzieher damals waren kaum geschult, berichtet sie. Viele wohl auch schlichtweg überfordert. „Das waren teils junge Mädchen. Oder Frauen vom alten Schlag.“ Dass eine Erzieherin warmherzig war, sei eine große Ausnahme gewesen, berichtet Zeis aus den vielen Erfahrungsberichten, die sie gehört hat.
Rund ein Viertel der Verschickungskinder kam nach Bayern. Noch gebe es viel zu wenig Aktenmaterial, berichtet Zeis. Erst nach und nach komme ans Licht, was in den Kurheimen passiert ist. Es gab Missbrauchsfälle, einige Kinder starben. Noch immer passiert wenig, um diese Verbrechen aufzuarbeiten. Der Bund hat eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Für Betroffene ist das enttäuschend wenig. Sinnvoller wäre es, die Vorfälle auf Länderebene aufzuarbeiten, sagt Zeis. „Dort wären in den Archiven mehr Unterlagen zu finden. Aber der Wille fehlt.“ Der Landtag hat einen SPD-Antrag dazu vor Kurzem abgelehnt. KATRIN WOITSCH