So ist die Lage auf den Covid-Intensivstationen

von Redaktion

Experten der „München Klinik“ erklären die Zahlen – und warum die Kapazitäten trotz freier Betten am Limit sind

VON WOLFGANG HAUSKRECHT

München – Schon länger wird darüber debattiert, ob die Zahl der Neuinfektionen, die sogenannte 7-Tage-Inzidenz, alleinige Grundlage der Corona-Politik sein soll. Gérard Krause, Epidemiologe am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum, hat gefordert, die Zahl der Intensivstation-Neuaufnahmen innerhalb von sieben Tagen mehr in den Fokus zu stellen. Das Mehr an Tests und Impfungen führe dazu, dass „wir zwar weiterhin viele Infektionen sehen, aber hoffentlich deutlich weniger Erkrankungen“, sagte Krause am Montag. Insbesondere die Neuaufnahme von Covid-Patienten auf den Intensivstationen bilde „sehr zeitnah und sehr gut die Dynamik der Pandemie ab“.

Aber würde das etwas am Ruf nach mehr Lockdown ändern? Wie ist die Lage auf Deutschlands Intensivstationen? Es sei „5 nach 12“, warnten Klinikleiter jüngst. Auch Dr. Axel Fischer, Chef der München Klinik mit ihren fünf Häusern Harlaching, Neuperlach, Schwabing, Bogenhausen und Thalkirchner Straße, warnt: „Wir müssen unsere normale Versorgung wieder runterfahren, weil der Druck zu hoch ist.“ Nicht zwingend erforderliche Operationen müssten schon bald ausgesetzt werden, um Intensivbetten für Covid-Patienten frei zu bekommen. Die Politik müsse handeln, ansonsten nehme sie in Kauf „dass die Kliniken an ihre Grenzen gefahren werden. Das ist unverantwortlich und falsch“.

23 912 Intensivbetten waren gestern deutschlandweit als betreibbar gemeldet. Weil auch andere eine Intensivbehandlung brauchen, ist nur ein Teil auf Covid-Patienten ausgelegt – derzeit 6282. Davon waren gestern 4979 belegt und 1303 frei. In Bayern waren 181 Corona-Intensivbetten verfügbar, 776 mit Patienten belegt. Davon mussten 423 beatmet werden.

Was alles an Covid-19-Intensivbetten hängt, warum das Personal ein entscheidender Engpass ist und warum es derzeit weniger Intensivbetten gibt als in der ersten Welle, das und vieles mehr erklären drei Experten der München Klinik auf dieser Seite.

Wie funktioniert ein Covid-Intensivbett?

Technisch ähnlich wie jedes Intensivbett. „Ein Intensivbett zeichnet sich vor allem durch das Monitoring von Vitalparametern und Beatmungsmöglichkeiten aus“, erklärt Dr. Tim Guderjahn, kaufmännischer Klinikleiter in Bogenhausen, Schwabing und der Thalkirchner Straße. Die Vitalparameter des Patienten werden auf Bildschirmen angezeigt, bei Abweichungen Alarme ausgelöst. So ist eine lückenlose Überwachung möglich. Neben einem Beatmungsgerät und weiteren Geräten, etwa zum Absaugen von Sekreten, hat jedes Bett zur Gabe von Medikamenten bis zu zehn Injektionsgeräte (Perfusoren). Je nach Einsatzbereich gibt es weitere Geräte, etwa eine Dialyseeinheit. Zudem verfügen Intensivbetten über medizinische Druckluft, Sauerstoff und Notstrombatterien.

Wann gilt ein Intensivbett als belegbar?

Man unterscheidet technisch vorgehaltene und zur Belegung verfügbare Intensivbetten. Vorgehaltene Betten sind technisch voll ausgestattet, aber weder in Betrieb noch mit Personal bestückt. Für belegbare Intensivbetten ist eine ausreichende Besetzung mit Fachpersonal Pflicht.

Wie sieht die personelle Besetzung im Detail aus?

„Wir haben für unsere zwölf Corona-Intensivbetten einen Pool von 38,5 Pflegestellen und 14 Ärzten“, erklärt Dr. Niklas Schneider, Intensivmediziner der München Klinik Schwabing. Bei den Pflegern gelte tagsüber ein Schlüssel von 1:2, also eine Fachpflegekraft pro zwei Patienten. Nachts sind bis zu drei Patienten erlaubt.

Weil Covid-Patienten isoliert liegen und die Pfleger das Zimmer in Schutzmontur über eine Schleuse betreten, braucht es vor der Schleuse zusätzlich einen Springer, der Material nachreichen oder schnell Hilfe holen kann. Mit Springer, sagt Schneider, komme man am Ende eher auf einen Schlüssel von nur 1,8 Patienten pro Pflegekraft.

Bei den Ärzten gibt es keine klaren rechtlichen Untergrenzen, sondern eine Empfehlung der Deutschen Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI), die je nach Stationsgröße variiert. Für die aktuell zwölf Betten wie in Schwabing liegt sie bei neun Ärzten. Zu berücksichtigen sind dann noch Zusatzleistungen wie Dialyse oder die extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO), bei der eine Maschine die Funktion der Lunge übernimmt. Deshalb, so Schneider, liege man in Schwabing bei 14 Ärzten für diese eine Intensivstation.

Hat sich der Personalschlüssel geändert im Vergleich zur ersten Welle?

Der Pflegeschlüssel habe so zwar schon 2020 gegolten, erläutert Schneider. Angesichts der Notlage auf den Intensivstationen sei er in der ersten Welle aber ausgesetzt worden. Pfleger und Ärzte durften mehr Patienten betreuen, als es derzeit der Fall ist.

Was kostet ein Corona-Intensivbett am Tag?

Ein Vorhaltebett kostet 150 bis 200 Euro am Tag, rechnet Tim Guderjahn vor. Ist es verfügbar, aber nicht mit einem Patienten belegt, sind es 1400 bis 1500 Euro am Tag. Ist ein Intensivbett voll im Einsatz, „sind die Kosten nach oben offen“, Je nachdem, ob invasiv beatmet wird, teure Medikamente nötig sind oder Zusatzleistungen wie Dialyse anfallen, könne ein Intensivbett dann durchaus 8000 bis 9000 Euro am Tag kosten.

Warum schwankt die Zahl der Intensivbetten so sehr?

Weil Intensivbetten teuer sind, wird die Vorhaltung laufend dem Bedarf angepasst. Ist der Bedarf geringer, werden belegbare Betten wieder in Vorhaltebetten umgewandelt und das Personal so für andere Aufgaben frei.

Und warum gab es in der ersten Welle mehr Betten?

Während der ersten Welle, erläutert Guderjahn, sei die Devise gewesen, möglichst viele Beatmungsplätze zu schaffen. Dafür habe es Fördermittel vom Bund gegeben. „Das heißt, viele Kliniken haben Intensivbetten aufgerüstet – teilweise unabhängig davon, ob sie mit Personal in regelhaften Dienstplänen bestückbar sind.“ Um die Förderung zu bekommen, mussten die Betten bis 30. September vorgehalten werden. Sie wurden in der DIVI-Statistik also als belegbar geführt, „hätten aber niemals alle gleichzeitig mit regulärem Personalschlüssel und Standardprozessen betrieben werden können“, betont Guderjahn. Deutschland habe sich auf ein Notfall-Szenario vorbereitet, um keine Zustände wie in Bergamo zu bekommen. „Wir hatten alle Angst, in eine Situation zu kommen, jemandem die Beatmung verweigern zu müssen.“

Die Zahlen der Corona-Intensivbetten von damals und heute sind also kaum vergleichbar, weil die verfügbaren Intensivbetten derzeit ganz regulär betrieben werden – also auch mit Patienten, deren Operationen in den ersten beiden Wellen verschoben werden mussten.

Was ist die sogenannte 7-Tage-Notfallreserve?

Im täglichen DIVI-Bericht findet sich noch eine Rubrik: die 7-Tage-Notfallreserve. 10 192 Betten waren es gestern – zusätzlich zu den 23 912 betreibbaren Betten. Diese Reserve sind Intensivbetten, die durch Umschichtung von Personal sowie Umorganisation innerhalb von sieben Tagen betriebsbereit gemacht werden können. Der Pferdefuß: Die Kliniken müssen dann die Versorgung in anderen Bereichen einschränken. „Diese Betten hat man nicht eben mal so parat“, erklärt Schneider. Es handle sich nicht mehr um eine geregelte Intensivversorgung, sondern um ein Notfallszenario, um nicht triagieren zu müssen – also auszuwählen, wer noch beatmet wird. Werde die Notfall-Reserve aktiviert, betont Schneider, sei der ohnehin schon knapp bemessene personelle Schlüssel pro Intensivbett nicht mehr zu halten.

Gibt es weitere Reserven?

Keine offiziellen. Noch mehr Betten intensiv auszustatten, wäre zwar möglich, auch, weil in der ersten Welle technisch aufgerüstet wurde und die Kliniken ausgemusterte Beatmungsgeräte eingelagert haben anstatt sie zu entsorgen. Der große Engpass bleibt aber das Personal.

Wie ist die Situation bei Pflegern und Ärzten?

„Die Intensivpflege ist nach 14 Monaten Covid-19 ausgebrannt“, warnt Schneider. Es gebe Pfleger, die den Dauerdruck nicht mehr aushalten und die Arbeitszeit reduziert hätten. Anders als in der ersten Welle könne man nicht mehr auf die Unterstützung von Pflegern im Aufbaustudium oder von Firmen setzen. „Die Universitäten laufen weiter, viele Firmen arbeiten normal. Deshalb können uns diese Kollegen nicht mehr helfen.“ Intensivpflegekräfte seien schon vor Covid rar gewesen. Und viele wollen wegen der enormen Belastung nicht mehr auf einer Covid-Station arbeiten. Auch bei den Ärzten würden die Kräfte schwinden, aber immerhin sei die Personalsituation weniger angespannt, ergänzt Guderjahn. „Da ist die Bewerbungssituation in München noch gut.“

Was verdient eine Intensivpflegekraft?

Die Bezahlung erfolgt nach Tarif. Intensivpfleger durchlaufen eine spezielle mehrjährige Ausbildung und verdienen mehr als andere Pfleger. Laut Guderjahn verdient eine Intensivpflegekraft mit Diensten und Zulagen im Schnitt etwa 4200 Euro brutto im Monat. Bei sehr erfahrenen Kräften und vielen Diensten könne das Monatsgehalt auf gut 6000 Euro steigen.

Wie ist in der München Klinik aktuell der Anteil an Covid-Intensivpatienten?

Die München Klinik hat insgesamt rund 150 belegbare Intensivbetten, ein Drittel davon steht aktuell für Corona-Patienten zur Verfügung. Gestern wurden 59 Covid-Patienten behandelt, 26 davon auf Normalstation, 23 auf Intensivstation. Die übrigen zehn wurden „Intermediate Care“ (IMC) versorgt, eine Vorstufe zur Intensivstation.

Etwa 100 Intensivbetten sind also aktuell für Nicht-Covid-Patienten. Das ist auch damit zu erklären, dass die München Klinik für rund ein Drittel der Notfälle in München zuständig ist. Zudem werden frühere wegen Corona verschobene Operationen nachgeholt.

Wenn es so viele Intensivbetten gibt, warum schlagen die Kliniken Alarm?

Weil, so die Experten, mangels Personal kaum noch Corona-Kapazitäten aufgebaut werden können, ohne andere Behandlungen zurückzufahren. „Wir sind an der Oberkante dessen, was wir leisten können“, so Schneider. Corona-Patienten müssten isoliert von anderen Patienten liegen. Deshalb müssten in der Regel gleich ganze Intensivstationen umgewidmet werden.

Dr. Pascal Scher ist klinischer Leiter in Harlaching und Neuperlach. In Harlaching habe man eine Intensivstation für acht Patienten komplett für Covid geräumt, sagt er. Plätze, die nun nicht mehr für Patienten mit Schlaganfall oder Herzinfarkt zur Verfügung stehen.

Schers zweites Beispiel: In Neuperlach konnte man eine Station räumlich teilen: sechs Betten für Covid, sechs für Tumor- und Gefäßpatienten. Daneben gebe es noch eine Station mit zwölf Nicht-Corona-Intensivbetten. „Spätestens Ende der Woche“, befürchtet Scher, müsse er die sechs Betten für Tumor- und Gefäßpatienten Corona zuschlagen. Als Folge sei man gezwungen, die internistische und chirurgische Notfallversorgung zusammenzulegen. „Dann müssen wir die Gefäßchirurgie abmelden – weil wir nicht mehr sicherstellen können, dass wir die Patienten ordnungsgemäß intensivbehandeln können.“

„Alles, was jetzt an Covid-Patienten draufkommt, geht zu Lasten des Regelbetriebs – möglich sind dann nur noch dringliche Operationen“, ergänzt Guderjahn. „Das ist eine auch ethisch ganz schwierige Abwägung, zu schauen, zu wessen Lasten wir die Corona-Kapazitäten erhöhen.“

Die Senioren sind weitgehend geimpft. Warum laufen die Intensivstationen trotzdem wieder voll?

Weil die britische Variante B.1.1.7 auch verstärkt Jüngere befällt. „Wir haben sehr viele junge Patienten im Moment“, sagt Schneider. Viele hätten kaum Vorerkrankungen. Neun der aktuell 59 Patienten sind 15 bis 44 Jahre alt, 26 Patienten 45 bis 64 Jahre, zwölf Patienten 65 bis 74 Jahre, neun Patienten 75 bis 84 Jahre – und nur noch drei Corona-Patienten älter als 84.

Das Durchschnittsalter der Patienten auf Intensivstation bzw. IMC lag zuletzt, Stand Dienstag, bei 62,75 Jahren.

Obwohl das Alter der Patienten sinkt, landen immer noch fast zwei Drittel auf der Intensivstation. Schneider hat dafür eine Erklärung: Typisch bei einer Corona-Infektion sei eine „stille“ Atemnot. Jüngere Patienten könnten das eine Zeit lang durch schnelleres Atmen ganz gut kompensieren. „Aber irgendwann erschöpft sich die Atemmuskulatur.“ Dann kämen die Patienten in die Klinik – meist zu spät für eine Therapie mit Medikamenten auf Normalstation. Die Atemmuskulatur ist schon zu geschwächt, eine Intensivbehandlung unausweichlich.

Wie viele Covid-Erkrankte müssen überhaupt in der Klinik behandelt werden?

Laut Schneider gibt es für die zweite und dritte Welle noch keine belastbaren Zahlen. In der ersten Welle hätten rund zehn Prozent aller Infizierten klinisch behandelt werden müssen, 17 Prozent davon auf Intensivstation. Umgerechnet landeten damals also rund 1,5 von 100 Infizierten auf der Intensivstation. Rund ein Drittel der Covid-Intensivpatienten, so Schneider, versterbe auf der Station. Ist eine invasive Beatmung nötig, liegt die Sterblichkeit mit 42,5 Prozent noch höher.

Insgesamt wurden in der München Klinik seit Beginn der Pandemie 2438 Covid-Patienten stationär versorgt. Knapp 600 davon, also jeder Vierte, auf Intensivstation.

Wie sind im Vergleich zu 2020 die Liegezeiten bei Covid-Intensivbetten?

Corona-Patienten, die beatmet werden müssen, liegen aktuell 18 bis 20 Tage auf der Intensivstation. Wer keine Beatmung benötigt, nur sechs bis neun Tage. „Die Betten sind mit zunehmend jüngeren Patienten insgesamt deutlich länger belegt – und das in einer Situation weiter steigender Zahlen“, sagt Schneider. Im Schnitt liegen die Patienten seiner Schwabinger Coronastation derzeit 14,2 Tage intensiv – in der ersten Welle waren es nur 12,3 Tage. „Es gab aber auch Patienten, die mit uns insgesamt über 100 Tage in der Klinik um ihr Leben gekämpft haben, davon viele Tage auf Intensivstation“, berichtet Schneider.

Kann man ein Intensivbett sofort neu belegen?

„Alles, was im Zimmer drin ist, muss geputzt und desinfiziert werden“, erläutert Schneider. Das Bett werde getauscht. „Das dauert mehrere Stunden, aber in der Regel können und müssen wir leider auch ein Bett noch am selben Tag wieder belegen.“

Ist Erholung in Sicht?

„Die Patienten, die heute in der Klinik behandelt werden, haben sich vor etwa zwei Wochen infiziert“, sagt Schneider. Die Belegung der Intensivstationen spiegele also das Infektionsgeschehen von vor zwei Wochen. „Da die Zahlen seitdem ungebremst weiter steigen, ist auch keine Erholung der Kliniken in Sicht.“

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