Erfurt – Das Wort fällt ganz zum Schluss, beim Abschied. Die beiden Frauen stehen sich gegenüber, in der Diele einer Wohnung im 13. Stock eines Plattenbaus in Erfurt. Erst am Tag zuvor hat Dorothea Johst, heute 79 Jahre alt, Sophie von Bechtolsheim persönlich kennen gelernt. Die gemeinsamen Stunden und die lange nicht in ihrer ganzen Bedeutung wahrgenommen gemeinsame Vergangenheit hat sie einander nahe gebracht. Dann nimmt Dorothea Johst dieses große Wort in den Mund: „Versöhnung“.
Die Begegnung war im Januar 2020. Sophie von Bechtolsheim ist Historikerin, Autorin – und die Enkelin von Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Aus dem oberbayerischen Uffing am Staffelsee im Landkreis Garmisch-Partenkirchen, wo sie lebt, war sie zu einer Lesung aus dem Buch über ihren Großvater nach Erfurt gereist. Johst zeigte der Besucherin die Stadt, die Frauen saßen bei Kaffee und Kuchen beisammen, unterhielten sich lange über ihre Familiengeschichten. Am nächsten Morgen trafen sie sich wieder. Es gab Obstsalat bei Dorothea Johst zuhause, sie hatte ihn für ihren besonderen Gast vorbereitet.
Keine der beiden Frauen kann sich heute, mehr als ein Jahr danach, erinnern, in welchen exakten Zusammenhang Dorothea Johst diesen Begriff bettete. Aber er beschrieb ein Gefühl. Als ob eine lebenslange, auf der einen Seite von Trauer und auf der anderen Seite von Schuld geschlagene Lücke sich langsam zu schließen begann.
Johst, Jahrgang 1942 und Bechtolsheim, geboren 1968, haben ein gemeinsames Schicksal. Heinrich Berger, Johsts Vater, kam am 20. Juli 1944 durch den Sprengsatz ums Leben, den Claus Schenk Graf von Stauffenberg in der Wolfsschanze zündete, um Adolf Hitler zu töten. Das Attentat liegt lange zurück. Aber es prägt die beteiligten Familien bis heute.
Heinrich Berger war kein Soldat, kein Offizier, kein SS-Mann, nicht einmal NSDAP-Parteimitglied. Er war 39 Jahre alt, dreifacher Familienvater, gläubiger Christ und der beste Stenograph des Landes. „Ihn hätte es nun wirklich nicht treffen sollen“, sagt Sophie von Bechtolsheim. „Doch mein Großvater hat diesen Mann umgebracht. Das ist der Satz, der zutrifft.“
Heinrich Berger sollte am 20. Juli die Lagebesprechung im Kartenraum des Führerbunkers in Ostpreußen protokollieren. Der für Hitler bestimmte Sprengsatz tötete drei hochrangige Wehrmachtsangehörige – und riss Berger beide Beine ab. Der Stenograph erlag Stunden später seinen Verletzungen. Dorothea Johst war damals zwei Jahre alt. Sie hat keine Erinnerung an Heinrich Berger, geblieben sind ihr Familienfotos. Auf einem sitzt die kleine Dorothea auf den Schultern ihres Vaters. Die Bilder entstanden im letzten gemeinsamen Urlaub, zwei Wochen vor dem 20. Juli, der das Leben der Familie auf den Kopf stellte. Die Mutter verzweifelte an ihrem Schmerz, Dorotheas Bruder Wolfgang bekam im Alter von neun Jahren die ganze Last ab. „Er musste über Nacht erwachsen sein“, erzählt seine Schwester. Stauffenberg, das war für den Bruder, der vergangenes Jahr starb, der Verantwortliche für das jähe Ende seiner Kindheit. Dazu kam: Während der Widerstandskämpfer des 20. Juli regelmäßig gedacht wird, kam Heinrich Berger nirgends vor. Nur im privaten Schmerz der Familie fand er seinen Platz.
Auch Dorothea Johst rang mit der Vergangenheit. Oft sprach sie mit ihrer Mutter über den Tod des Vaters. Stauffenberg und die Verschwörer waren integraler Bestandteil dieser Auseinandersetzung. Johsts Bücherregal ist gut bestückt mit Literatur über den 20. Juli. „Ich würde Stauffenberg nicht verantwortlich machen für den Tod meines Vaters“, sagt sie heute und begründet das mit der Notwendigkeit des Versuchs, Hitler auszuschalten. Der Krieg, das verbrecherische Regime, der Tod von Millionen Menschen. In diese Perspektive ordnet die Tochter des Stenographen den tragischen Tod ihres Vaters ein.
Und doch gibt es keinen Zweifel an Stauffenbergs Verantwortung. Die Verschwörer entschieden sich dafür, auch das Leben anderer zu riskieren, um Hitler zu beseitigen. Der am 21. Juli hingerichtete Stauffenberg ist die am schwersten zu fassende Figur in dieser Tragödie. Verantwortlicher und Opfer zugleich. Früh hatte er die Verbrechen der Nazis erkannt. Zu seiner Vita gehört aber auch, dass er das Nazi-Regime zu Beginn nicht ablehnte, die Wende kam erst später.
Sophie von Bechtolsheim, in München als Stauffenberg geboren, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit ihrer Familiengeschichte. 2019 mündete das in ihrem Buch „Stauffenberg – mein Großvater war kein Attentäter“. Das Buch traf offenbar einen Nerv. Leser offenbarten der Autorin ihre eigenen Familiengeschichten. Bechtolsheim fasste einige dieser Berichte in einem neuen, gerade erschienenen Werk zusammen: „Stauffenberg. Folgen: Zwölf Begegnungen mit der Geschichte“.
In einem Kapitel beschreibt die Autorin die Begegnung mit Dorothea Johst. Ein Leser und eine Freundin hatten sie auf die Tochter Heinrich Bergers aufmerksam gemacht. „Es hat mich sehr berührt, dass sie den Kontakt gesucht hat“, sagt Johst. Als hätte sie ein Leben lang auf diesen Moment gewartet, in dem jemand aus der Familie Stauffenberg ihren vergessenen Vater in den Fokus rückt und sein Schicksal anerkennt.
Ihrer ersten E-Mail an Bechtolsheim hängte Johst Fotos an. Eines zeigt den Grabstein ihres Vaters mit seinem Todesdatum, dem 20. Juli 1944. „Das Foto hat mich umgehauen“, sagt Bechtolsheim. Die Folge des fehlgeschlagenen Attentats wurde plötzlich für sie greifbar. Ein unschuldiger Mensch war gestorben, durch die Hand ihres Großvaters. Sie sei vor der Begegnung in Erfurt sehr aufgeregt gewesen, erzählt Bechtolsheim, aber Dorothea Johst habe ihr die Angst von der ersten Minute an genommen. Die Enkelin Stauffenbergs und die Tochter Bergers begegneten sich mit viel Zeit und Aufmerksamkeit. Dorothea Johst erzählt von einem unerklärlichen Gefühl. Bei der ersten Begegnung sei es so gewesen, als hätten sich beide schon seit Jahren gekannt. „Es war so, als seien wir gute Freundinnen.“
Stauffenberg
Zwölf Begegnungen mit der Geschichte. Herder-Verlag, 224 Seiten, 20 Euro.