Griechenland geht aufs Ganze

von Redaktion

VON FERRY BATZOGLOU UND WOLFGANG HAUSKRECHT

Athen – Kyriaki Vassilakis, 56, steht vor ihrer Taverne „Megas Napoleon“. „Napoleon der Große“ heißt das übersetzt und die Taverne auf der beliebten Ferieninsel Kreta ist nicht nur bei Einheimischen hoch gelobt. Sie liegt in bester Lage an der Küstenpromenade von Ierapetra, dem südlichsten Ort in Griechenland. Vassilakis holt tief Luft. „Endlich!“, freut sie sich. Es klingt nach Befreiung, ganz so, als könne die Wirtin es nicht erwarten, ihren Gästen wieder kulinarische Köstlichkeiten der berühmten kretischen Küche zu servieren.

„Das war gefühlt ein langer, ein dunkler Winter. Und das, obwohl hier in Ierapetra fast immer die Sonne scheint und es auch nie richtig kalt ist“, sagt Kyriaki Vassilakis. „Ich bin einfach froh, dass wir wieder Gäste empfangen dürfen und bin mir sicher, dass darunter auch wieder viele Touristen sind“, sagt sie vor Zuversicht sprühend.

Inselhüpfen ist wieder möglich

Morgen ist es so weit: Am 15. Mai öffnet sich Griechenland wieder vollständig für den Tourismus. Sechs Monate nach ihrer Schließung wegen der Corona-Pandemie waren schon am 3. Mai die Restaurants, Tavernen, Bars und Cafés wieder geöffnet worden. Auch das 1969 eröffnete und bald in dritter Generation geführte „Megas Napoleon“. Die Reisebeschränkungen zwischen den Regionen werden aufgehoben. Wer per Schiff oder Flugzeug auf eine der Inseln will, benötigt einen Impfnachweis oder einen negativen Corona-Test.

Allerdings gibt es noch viele Auflagen: So muss das Personal zwei Mal pro Woche einen negativen Schnelltest vorweisen, immer eine Maske tragen. Stehende Gäste und Musik sind im Mai nicht erlaubt, an einem Tisch dürfen höchstens sechs Personen sitzen. Zudem müssen die Stühle zwischen zwei Tischen einen Abstand von wenigstens 1,80 Metern haben. Die nächtliche Ausgangssperre beginnt ab heute erst um 0.30 Uhr. Damit ist es den Restaurants, die bisher um 22.45 Uhr schließen mussten, erlaubt, wieder länger aufzuhaben – allerdings nur draußen. Ferner sind die Museen und archäologischen Stätten fortan wieder geöffnet.

Der Ferienort Myrto mit seinen malerischen kleinen Häusern, den schönen Gassen und seinem langen, feinsandigen Strand liegt etwa 14 Kilometer westlich von Ierapetra. Vor der Corona-Pandemie tummelten sich hier die Touristen, darunter viele Familien. Wer hierher wollte, musste früh buchen. Derzeit ist der Ort fast menschenleer. Die Bewohner sind aber in guter Stimmung. Sie wissen: Das wird nicht so bleiben.

Myrto hat sich seine urige Fischerdorf-Atmosphäre bewahrt und liegt bei Urlaubern im Trend, gerade in diesen besonders schwierigen Corona-Zeiten. Ob Griechen oder Stammgäste aus dem Rest Europas und anderswo: In der Idylle Myrtos sind für den Juli und August kaum noch Unterkünfte zu finden.

„Wir bieten unseren Gästen genau das, was sie im Urlaub wollen: Ruhe, Erholung, Kontakt mit den Bewohnern, traditionelle Lokale. So wie Griechenland mit seinem Flair vor 30, 40 Jahren noch war“, sagt Maria, eine Pensionsbesitzerin in Myrto.

Auf Kreta ist das nicht überall so. In Chersonissos an der Nordküste zum Beispiel wurde schon Mitte der 1970er-Jahre das erste große Hotel gebaut. Immer mehr Hotelburgen folgten. Inzwischen ist der Moloch mit Fast-Food-Ketten, Bars und Nachtclubs übersät. Massentourismus pur, am besten alles inklusive. Hier sind die Sünden einer nicht nachhaltigen Tourismus-Entwicklung auf Schritt und Tritt zu sehen. Die Tourismus-Blase in Chersonissos platzte schon vor der Pandemie, das Virus gab Chersonissos dann den Rest.

Hohe Fallzahlen schrecken Urlauber ab

Nikos Perrakis, ein netter Mitfünfziger, hält einen Schlauch und gießt die Blumen auf dem Gelände seiner Mietwagenfirma „Zygos“. Seit 1985 ist er im Geschäft, zwei Büros hat er in Chersonissos, seine Flotte ist 80 Mietwagen stark. Nikos Perrakis sieht auch für diesen Sommer schwarz, pechschwarz. „Gerade habe ich eine Stornierung erhalten. Vier Personen, alles Belgier, ein Auto, für 14 Tage. Wissen Sie, was mir die gesagt haben? Sie sagten mir, sie hätten ihre Reise gecancelt, weil Griechenland wegen der hohen Corona-Zahlen ein Risikogebiet sei. Sie stellten mir bohrende Fragen: Was passiert denn, wenn ich in Griechenland krank werde? Hat Griechenland genügend Intensivbetten?“ Nur wenn Griechenland wieder „grün“ in Sachen Corona-Zahlen werde, würden sie sich überlegen, ob sie später doch noch kommen.

So denken offenbar viele potenzielle Griechenland-Urlauber. Und tatsächlich sind die Zahlen alles andere als rosig. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag am Donnerstag bei 168,2 – Tendenz seit dem 6. Mai wieder stark steigend. Damals lag die Inzidenz bei 111. Auch die Zahl der Neuinfektionen steigt wieder. Am 5. Mai gab es 1648 gemeldete Neuinfektionen, am Donnerstag waren es 2478.

Perrakis, der Autovermieter, ist sich sicher: „Den Mai und Juni können wir getrost vergessen. Kaum bis keine Neubuchungen, dafür Stornierungen. Sehen wir mal, was ab Anfang Juli läuft, um die Saison irgendwie noch zu retten. Ein zweites schlechtes Jahr können wir nicht aushalten“, stöhnt er und dreht das Wasser ab. Die Blumen sind gegossen.

Dass Griechenland trotz steigender Infektionszahlen öffnet, hat einen einfachen Grund. „Noch eine verlorene Reisesaison in diesem Jahr würde uns das Genick brechen. Das würde uns in den Ruin treiben“, sagt Grigoris Tasios, der Präsident des griechischen Hotelverbandes.

Tourismus ist der Motor Griechenlands

Ob Kreta, die Kykladen, Kos, Korfu, Rhodos oder der Peloponnes: Griechenland hat 2020 touristisch ein katastrophales Jahr erlebt. Einer Studie der Athener Notenbank (TTE) zufolge brachen die Direkterlöse im griechischen Tourismus 2020 um knapp 77 Prozent auf 4,31 Milliarden Euro ein. Die Zahl der Urlauber ging um gut 78 Prozent auf 7,4 Millionen zurück. Kein Land in Europa ist so abhängig vom Tourismus wie Griechenland. 2019 hatten 31,35 Millionen Ausländer Urlaub in Griechenland gemacht – die Kreuzfahrttouristen nicht mitgerechnet. Ein Allzeitrekord.

Die meisten, 4,026 Millionen, kamen aus Deutschland, gefolgt von Briten (3,5 Mio.), Italienern (1,55 Mio.), Franzosen (1,54 Mio.), Rumänen (1,38 Mio.) sowie US-Amerikanern (1,18 Mio.). Zum Vergleich: 2010 zählte Griechenland erst 15 Millionen Urlauber aus dem Ausland. Die Tourismusbranche ist der Wachstumsmotor des chronischen Finanzpatienten.

Die griechische Regierung unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis hofft darauf, dass heuer wieder 15 Millionen Urlauber nach Hellas reisen werden. Das wäre der Stand von 2010. Mitsotakis war einer der Ersten, der einen einheitlichen EU-Impfpass forderte.

Ob dieses Ziel erreicht werden kann, ist die Frage. Denn viele Urlauber werden die Rückreise-Regeln als Maßstab für ihre Entscheidung nehmen. Und die sind in Bewegung. Griechenland ist von deutscher Seite als Risikogebiet eingestuft und wird das wohl auch noch länger bleiben. Das bedeutet: Bei Rückkehr muss man sich für zehn Tage in häusliche Quarantäne begeben. Aber es gibt eine gute Nachricht: Seit Donnerstag gelten erleichterte Bedingungen für Risikogebiete. Die Quarantäne kann mit einem Negativtest umgehend beendet, also faktisch vermieden werden. Zuvor war das erst nach fünf Tagen möglich.

Kritisch würde es für Griechenland, sollten die Zahlen weiter steigen. Ab einer Inzidenz von 200 könnte Hellas als Hochinzidenzgebiet eingestuft werden. Ein Freitesten wäre dann erst wieder nach fünf Tagen möglich.

Vorrangige Impfung für Inselbewohner

Um die Zahlen zu senken, will Griechenland beim Impfen zulegen. Bis Ende Juni sollen sämtliche Inselbewohner geimpft sein. Die Reihenfolge sieht so aus: die 32 kleineren Inseln zuerst, dann die 36 größeren und am Ende die 19 ganz großen wie Kreta. Bisher sind in ganz Griechenland rund 25 Prozent der Einwohner erstgeimpft.

Nicht nur die Inseln, auch die Athener Altstadt Plaka mit ihren antiken Stätten füllt sich nur langsam. Sogar das Gros der Athener meidet noch die Innenstadt der Vier-Millionen-Metropole. Von Touristen fehlt jede Spur.

Kostas, 27, der in der Plaka Ende 2019 den großen Souvenirladen „Athena, Greek Souvenir“ eröffnet hat, will die Hoffnung nicht aufgeben. „Ich habe das Geschäft zwei Monate vor Ausbruch der Pandemie gestartet. Ich konnte nicht ahnen, dass so etwas kommen würde. Wer konnte das schon?“, seufzt er. „Aber ich werfe nicht das Handtuch. Sehen Sie, hier steht die Akropolis! Wer will sie nicht einmal in seinem Leben gesehen haben?“

Hellas vor der Öffnung des Tourismus – ein Land zwischen Hoffen und Bangen.

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