„Jeder Mensch, der auf der Warteliste stirbt, ist einer zu viel“

von Redaktion

Christian Hagl, Chef der Herzchirurgie des LMU-Klinikums, über das Leben seiner schwer kranken Patienten und die Chancen, sie zu retten

Professor Christian Hagl (53), gebürtiger Münchner und dreifacher Vater, gilt als leidenschaftlicher Kämpfer für die Organspende: „2019 sind in Deutschland 756 Patienten verstorben, während sie auf der Warteliste für ein Spenderorgan standen. Jeder Einzelne war einer zu viel“, sagt der Chef der Herzchirurgie des LMU Klinikums. Im Interview erklärt Hagl, wie sehr Patienten leiden, deren einzige Überlebenschance eine Transplantation ist.

Herr Professor: Wie erleben Sie Menschen, die auf ein Spenderorgan warten?

Ihre Lage ist dramatisch. Sie sind hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Angst, stehen körperlich und psychisch permanent unter massivem Stress. Sie müssen rund um die Uhr telefonisch erreichbar sein – auch nachts. Ihnen muss klar sein, dass das Krankenhaus zum Teil ihrer Familie wird. Wir müssen immer wissen, wo sie sind, was sie gerade machen.

Wie gehen die Patienten mit dieser oft monatelangen Ausnahmesituation um?

Sehr unterschiedlich. Einige bleiben trotzdem relativ entspannt, andere schlafen praktisch mit dem Telefon unterm Kopfkissen, weil sie große Angst davor haben, den entscheidenden Anruf zu verpassen.

Welche Fortschritte hat die Transplantationsmedizin gemacht?

Die operative Technik hat sich zwar kaum geändert. Aber wir haben viel Wissen darüber gesammelt, wie wir besser mit den Spenderorganen umgehen können. Wir haben inzwischen bessere Medikamente zur Verfügung, sogenannte Immunsuppressiva, die eine Abstoßungsreaktion verhindern sollen. Darüber hinaus setzen wir immer häufiger spezielle Maschinen ein, um die Spenderorgane zwischen der Entnahme und der Transplantation mit Blut und Medikamenten zu versorgen. Dadurch kommen sie in einem besseren Zustand beim Empfänger an. Außerdem können wir Spenderorgane aus größerer Entfernung holen. Ohne die neue Methode haben wir vier Stunden Zeit, bis das Herz wieder im Organismus schlagen muss. Die sogenannte Maschinenperfusion erhöht dieses kritische Limit auf sechs, acht, im Idealfall sogar zwölf Stunden.

Was muss geschehen, um mehr Menschen für Organspende zu gewinnen?

Das große Problem ist: Solange du selbst nicht betroffen bist, interessiert dich das Thema nicht. Dazu kommt: Themen wie Sterben oder tödliche Unfälle sind in unserer Gesellschaft tabu. Allerdings habe ich den Eindruck, dass junge Leute heute offener mit solchen vermeintlichen Tabuthemen umgehen, Wir müssen erreichen, dass sie untereinander über Organspende diskutieren und die Gespräche in ihre Familien hineintragen. Jedes Familienmitglied sollte wissen: Was würde mein Angehöriger wollen, wenn ihm mal etwas passiert? Das ist viel entscheidender als der Organspenderausweis. Denn vor der Organentnahme wird immer der Angehörige gefragt. Wenn dieser ablehnt, würden wir Ärzte nichts unternehmen, selbst wenn der Verstorbene einen Organspenderausweis hat. Die Organentnahme wäre dann zwar rechtlich zulässig, aber für die Hinterbliebenen zu belastend.

Warum erfahren die Transplantierten in der Regel nicht, wer das Organ gespendet hat?

Der Kontakt wäre emotional oft problematisch – nur ein Beispiel: Man schaut einem Fremden in die Augen, in dessen Brust das Herz des geliebten Angehörigen schlägt. Das kann Menschen überfordern. Wir bieten aber einen anderen Weg an: Der Empfänger kann der Familie des Spenders einen Brief schreiben. Diese kann dann entscheiden, ob sie den Kontakt will.

Interview: Andreas Beez

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