Berlin – Mit drastischen Worten hat der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung vor einem Scheitern im Kampf gegen Kindesmissbrauch gewarnt. „Hier ist ein Kipppunkt erreicht – wir müssen verhindern, dass das System kollabiert“, sagte Johannes-Wilhelm Rörig gestern in Berlin. Er warnte insbesondere vor Engpässen bei der Polizei, die Ermittlungen ausbremsen könnten.
Gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, stellte Rörig die jüngsten Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik zu Gewalt gegen Kinder vor. Demnach hat die Polizei im vergangenen Jahr erneut mehr Fälle von Kindesmissbrauch und von Misshandlungen Schutzbefohlener registriert. So stieg die Zahl der Misshandlung Schutzbefohlener um zehn Prozent auf 4918 Fälle, bei Kindesmissbrauch stieg sie um 6,8 Prozent auf über 14 500 Fälle. Um mehr als 50 Prozent wuchs die Zahl erfasster Fälle von Kinderpornografie auf 18 761. 152 Kinder kamen gewaltsam zu Tode. Die meisten dieser Opfer, nämlich 115, waren unter sechs Jahre alt. Auch die Zahl der Fälle, in denen Minderjährige selbst Missbrauchsabbildungen verbreiteten, erwarben, besaßen oder herstellten, wuchs stark. Sie hat sich im letzten Jahr im Vergleich zu 2018 mehr als verfünffacht.
Die bayerische Polizei hat im vergangenen Jahr ebenfalls einen eklatanten Anstieg der Fälle von Kinderpornografie um rund 60 Prozent verzeichnet. Die 2762 an die Staatsanwaltschaft übergebenen Fälle bezeichnete Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gestern in München als alarmierend.
Nicht alle für 2020 gemeldeten Taten ereigneten sich auch im vergangenen Jahr. Die Statistik ist eine Ausgangsstatistik, erfasst also die Fälle zu einem Zeitpunkt, an dem die Polizei ihre Bearbeitung abschließt. Trotzdem gibt es starke Hinweise, dass die Pandemie eine Zunahme von Gewalt und auch sexualisierter Gewalt befördert hat.
Davon geht auch der Präsident des Deutschen Kinderschutzbunds, Heinz Hilgers, aus. „In der Pandemie haben viele Familien unter hohem Stress auf engem Raum zusammengelebt. Die gestiegene Belastung vieler Eltern durch Homeschooling und Homeoffice bei oft mangelnder technischer Ausstattung haben den Stress verschärft“, sagte er. Er verlangt, dass „der Kampf gegen sexualisierte Gewalt in Deutschland insgesamt zur Chefsache werden muss“. Dabei gehe es „ganz zentral um das Verhältnis von Datenschutz und Kinderschutz“ erklärte er unter Verweis auf die in Deutschland nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs ausgesetzte Vorratsdatenspeicherung. Dabei wären Anbieter verpflichtet, Telefon- und Internetverbindungsdaten der Nutzer bis zu zehn Wochen zu speichern, so dass Ermittler später bei Bedarf darauf zugreifen können. Einige Anbieter speicherten derzeit gar keine Daten, sagte BKA-Chef Münch. Die Polizei müsse Hinweisen auf Kinderpornografie deshalb immer sehr schnell nachgehen.
Eine Gesetzesverschärfung soll Täter jetzt abschrecken. Ab Juli gilt: Wer Kinder sexuell misshandelt, Fotos davon macht oder Aufnahmen verbreitet oder auch nur besitzt, soll grundsätzlich als Verbrecher bestraft werden. Damit droht eine Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis. dpa