München – Um 11 Uhr verschickt das Erzbistum München und Freising die Pressemitteilung, drei Stunden später tritt ein nachdenklicher, aber auch energischer Kardinal im Innenhof seines Münchner Amtssitzes vor die Presse. Reinhard Marx spricht über seine Entscheidung, auf sein Amt als Erzbischof zu verzichten. Und über die Krise, in die die Missbrauchsfälle die Kirche gestürzt haben. Ihm, betont Marx, gehe es im Kern darum, „Mitverantwortung zu übernehmen für das, was in der Kirche passiert ist“. In der Institution, „die ein Raum der Heilung sein soll“ und „ein Raum der Zuversicht“.
Als Erzbischof der 1,7 Millionen Katholiken zählenden Erzdiözese München und Freising ist Marx einer der mächtigsten Männer der katholischen Kirche in Deutschland. Als enger Berater von Papst Franziskus auch eine wichtige Figur für die Weltkirche. Als solcher ist er es gewohnt, kraftvoll zu sprechen. Seinem Auftritt am Freitagmittag merkt man an, dass er sich lange Zeit Gedanken über die richtigen Worte gemacht hat. „Die Frage nach meinem Amtsverzicht bewegt mich schon längere Zeit“, sagt Marx.
In der persönlichen schriftlichen Erklärung, die Marx begleitend zum Brief an den Papst verfasst hat, nennt er einige dieser Momente. Als ihn ein US-Reporter mit Blick auf die Missbrauchskrise vor Jahren fragte, ob das seinen Glauben verändert habe und er mit „Ja“ antwortete. Oder die Pressekonferenz nach der Vorstellung der Missbrauch-Studie im September 2018 in Fulda, wo Marx gefragt wurde, ob einer der Bischöfe Verantwortung übernehme und seinen Rücktritt angeboten habe. „Diese Frage habe ich mit ,Nein‘ beantwortet“, schreibt Marx. „Und auch hier habe ich im Nachgang immer stärker gespürt, dass diese Frage nicht einfach beiseitegeschoben werden kann.“
Auch im eigenen Haus steht noch ein unangenehmer Termin bevor. Nachdem ein erstes Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum nur auszugsweise veröffentlicht worden war, soll im Sommer, spätestens Herbst, nun ein überarbeitetes Gutachten vorgelegt werden. Bis in die Kirchenspitze solle das Gutachten reichen, so das Versprechen. Namen von Verantwortlichen sollen genannt werden. Da geht es auch um die Frage, ob der spätere Papst Benedikt XVI. von vertuschten Missbrauchsfällen in seiner Zeit als Münchner Erzbischof wusste.
Über Ostern nun fasste Marx den Entschluss, persönliche Konsequenzen zu ziehen. Am 21. Mai teilte er das dem Papst mit, schriftlich und auch persönlich. Marx sieht die Kirche an einem „toten Punkt“, der, so hofft er, zu einem „Wendepunkt“ hin zu einer Erneuerung der Kirche werden könne. Sein Rücktritt als Erzbischof soll diesen Prozess mit in Gang setzen. Ob der Papst das Gesuch annimmt, ist offen.
Einige Beobachter interpretieren Marx’ Rücktrittsangebot als Fingerzeig in Richtung anderer Bischöfe, allen voran den Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki. Marx nennt den Namen Woelki nicht, aber er betont, dass eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle „nicht nur im juristischen Sinne“ erfolgen könne. Für den Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller sind Marx’ Worte eine klare Botschaft: „Er greift Kardinal Woelki frontal an, wenn er von denen spricht, die sich hinter juristischen Gutachten verstecken und nicht bereit sind, die systemischen Ursachen der sexualisierten Gewalt in der Kirche mit mutigen Reformen anzugehen.“
Einen Kommentar Richtung Köln gibt es von Marx auch am Freitag nicht. Darüber, wie andere ihre Verantwortung wahrnehmen möchten, „kann ich keine Vorschriften machen“, sagt Marx. „Es ist eine ganz persönliche Entscheidung.“
In seinem Fall ist es eine Entscheidung, für die Marx viel Anerkennung erfährt. „Ich habe das Rücktrittsangebot von Kardinal Marx mit großem Respekt, aber auch großem Bedauern aufgenommen“, sagt der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm gegenüber unserer Zeitung. Sollte der Papst das Angebot annehmen, „würde seine starke Stimme im jetzigen Amt fehlen“. Marx’ Entscheidung „zeigt erneut die beispielgebende Gradlinigkeit und Konsequenz, mit der er die Erneuerung seiner Kirche betreibt“.
Auch Alois Glück, ehemaliger bayerischer Landtagspräsident und früherer Präsident des Zentralkomitees der Katholiken (ZdK), zollt Marx Respekt. Kardinal Marx habe das zentrale Problem beschrieben, warum es der Kirche seit Jahrzehnten nicht möglich ist, diese schreckliche Realität des sexuellen Missbrauchs aufzuklären. Es sei halt nicht nur die Schuld des Einzelnen, sondern ein systemisches Versagen der Kirchenleitung. „Seine Offenheit wird eine neue Dimension in die kirchliche Diskussion bringen.“
Und auch die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ würdigt den Vorstoß. „Marx hat verstanden, dass diejenigen, die den Karren in den Dreck gezogen haben, ihn nicht zugleich wieder herausziehen können“, sagt Sprecher Matthias Katsch.
Enttäuscht reagiert der Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg. „Ich bin tief erschüttert – da geht der Falsche“, sagt er. Er schätze Marx außerordentlich. „Was Marx in der Ökumene, beim synodalen Weg und auch bei der Missbrauchsaufarbeitung geleistet hat, ist ganz wichtig gewesen.“
Nun ist es auch nicht so, dass Marx sich zur Ruhe setzen will. „Ich bin nicht amtsmüde. Ich bin nicht demotiviert“, betont er mit dem Anflug eines Lächelns. „Sicherlich nicht. Mein Dienst für die Kirche und für den Menschen ist nicht zu Ende.“ In welcher Funktion der Kardinal künftig arbeiten wird, sei nicht seine Entscheidung. „Ich habe mein Arbeiten in die Hände des Papstes gelegt.“ Bis zu einer Entscheidung werde er das Amt weiter ausführen. „Ich bin gerne Priester und Bischof. Das bleibe ich auch.“ Lediglich die Frage, wo er pastoral tätig sein werde, „das möge der Papst entscheiden“.
Der Weg der Erneuerung sei begonnen, aber noch nicht am Ende, betont Marx. Nicht nur individuelles Versagen, „auch die Verantwortung der Institution selber“ müsse in den Fokus gerückt werden. „Es geht um eine Erneuerung und eine Reform der Kirche insgesamt.“ Das sieht der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, genauso. Manche hätten wohl den Eindruck, dass es mit „mit einigen Schönheitsreparaturen getan“ sein könnte. Dem widerspreche Marx, „und dem widerspreche ich auch“, sagte Bätzing.