Studie: Distanzunterricht ist wie Ferien

von Redaktion

VON WOLFGANG HAUSKRECHT, STEFAN SESSLER & DIRK WALTER

München – Das Fazit ist ernüchternd: Eine „Stagnation mit Tendenz zu Kompetenzeinbußen“ sieht die Studie – also nicht nur kein Kompetenzaufbau, sondern eher weniger als vor Corona. Andreas Frey, einer der Frankfurter Forscher, sagte am Montag, die Kompetenzentwicklung liege damit „im Bereich der Effekte von Sommerferien“. Bei vielen Schülern seien „enorme Leistungsdefizite“ entstanden. Besonders starke Lerndefizite beobachten die Forscher bei Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Elternhäusern. „Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich während der ersten coronabedingten Schulschließungen noch weiter geöffnet“, erklärte Frey.

Das negative Ergebnis bezieht sich vor allem auf das Frühjahr 2020, als die Schulen erstmals ins „Homeschooling“, also in den Distanzunterricht, wechseln mussten. Für die späteren Schließungen ab dem Winter sieht die Studie Anzeichen, dass diese womöglich nicht so drastisch ausfallen. Die Online-Lehre habe sich vielerorts verbessert, wodurch womöglich negative Effekte abgefedert werden konnten, schreiben die Forscher.

Die Studie der Goethe-Universität ist eine sogenannte Metastudie – und nicht speziell auf Deutschland zugeschnitten. Die Forscher hatten weltweit Studien identifiziert, in denen die Auswirkungen der coronabedingten Schulschließungen auf die Leistungen und Kompetenzen von Schülern berechnet wurden. Es seien nur „forschungsmethodisch hochwertige Publikationen“ berücksichtigt worden, die eindeutige Rückschlüsse auf die Wirkung coronabedingter Schulschließungen auf den Kompetenzerwerb erlaubten und geeignete Tests einsetzten, erklärte Frey.

Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands, regt die Studie dennoch „furchtbar auf“, wie er unserer Zeitung gestern sagte. Über wirklich entstandene Lernverluste sei „derzeit absolut noch keine Aussage möglich, weil in keinem Bundesland bislang in der kurzen Phase seit Rückkehr an die Schulen nach dem zweiten Lockdown umfassende Lernstandserhebungen durchgeführt wurden“. Ein Pauschalurteil über Distanzunterricht sei nicht gerechtfertigt. Dieser habe erstens einen Digitalisierungsschub gebracht und zweitens viele Schüler – freilich nicht alle – gelehrt, sich selbst zu organisieren.

Auch Walter Baier, Schulleiter des Gymnasiums Bruckmühl (Kreis Rosenheim) und Vorsitzender der Vereinigung bayerischer Gymnasialdirektoren, will die Studie nicht überbewerten. Die Kernbotschaft stimme aber. „Wir sind im März 2020 bei null gestartet. Die Voraussetzungen waren nicht da – technisch, didaktisch. Diese Zeit ist vielen Schülern verloren gegangen.“ Diejenigen, die keine Unterstützung hatten durch die Eltern oder kein eigenes Leihgerät, seien aus dem Fokus der Lehrer verschwunden. „Das ist bitter. Aber was hätte man tun können? Es gab keine Blaupause für diesen Fall.“

Baier ist wichtig, dass es auch die anderen Schüler gibt, jene, „die genau da sind, wo sie sein sollen“. Die Folgerung? „Die Schere an den Schulen ist noch weiter aufgegangen. Es geht ja nicht nur um Lernrückstände, sondern auch um soziale Kompetenzen, die nicht aufgebaut werden konnten.“ Chor, Orchester, Skilager, Schüleraustausch. Nichts habe stattfinden können. Das habe die Schüler zurückgeworfen.

Das bestätigt auch Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV). „Es leugnet niemand, dass wir jetzt im Juni 2021 genügend Kinder haben, die durchs Raster fallen. Denen Kompetenzen fehlen. Die in der sozialen Entwicklung immense Rückschritte gemacht haben. Die emotional in einem schlimmen Zustand sind. Die adipös geworden sind und ihre Ängste im wahrsten Sinne des Wortes in sich reingefressen haben. Die Medien konsumiert haben in einer Menge, die wir uns bisher nicht vorstellen konnten. Die daheim untergegangen sind, weil die Eltern keine Zeit hatten.“

Allerdings, sagt Fleischmann, seien die Probleme nicht mehr ganz so groß wie im Frühjahr 2020. „Damals hat uns Corona alle kalt erwischt. Inzwischen ist das anders. Anderthalb Jahre später haben wir gemeinsam bewiesen, dass Schule auch während einer Pandemie funktionieren kann.“

Schulleiter Baier fordert, den Blick nach vorne zu richten. Die Frage ist, wie. Zwar, betont Baier, könne man mit Zusatzangeboten helfen, die Corona-Lücken zu schließen. „Aber es hilft nichts, wenn genau die Schüler, die es bräuchten, das nicht annehmen.“ Und es fehle dafür an Lehrern. „Der Freistaat müsste eigentlich mehr Lehrer einstellen, aber ich befürchte, das wird nicht passieren.“

Die Schüler auf Biegen und Brechen ins nächste Schuljahr zu bringen, davon hält Baier deshalb nichts. Für viele sei es besser, das Schuljahr zu wiederholen. Individuelle Gespräche mit Eltern seien jetzt nötig. Die Defizite aufzuarbeiten, werde „mehr als ein Schuljahr“ dauern.

„Die Studie bestätigt unsere Befürchtungen“, sagt Martin Hagen, Fraktionschef der FDP im Landtag. Umso wichtiger sei es, dass die Regierung fürs neue Schuljahr eine Präsenz-

unterricht-Garantie abgebe. „Einen erneuten Schullockdown darf es nicht geben.“ Auch die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Britta Ernst (SPD), warnt davor, frühzeitig weitere Einschränkungen des Regelunterrichts festzulegen.

Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (FW) hält die Aussagekraft der Studie zwar für „begrenzt“, räumt aber ein: „Distanzunterricht ist nicht dasselbe wie Präsenzunterricht. Manche Schüler tun sich schwer, wenn sie allein vor dem Rechner sitzen.“

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