München – Am frühen Morgen, sechs Uhr irgendwas, steht plötzlich der Gesundheitsminister im Impfzentrum Memmingen. Klaus Holetschek hat Brezen dabei und einen Obstkorb für die Mitarbeiter, außerdem warme Dankesworte. Die ganze Nacht standen die Helfer und Ärzte bereit, um die lebensrettenden Dosen zu verteilen. Die Geste des Ministers wird sehr geschätzt. Nur bei einem kann er auch nicht helfen, eines fehlt schmerzlich in diesem Zentrum: Impfwillige.
Ausgerechnet in der Heimatstadt des Gesundheitsministers ist eine Sonder-Impfaktion gefloppt. 1800 Dosen Astrazeneca hatten die Helfer zur Seite gelegt, um unbürokratisch Menschen zu impfen: ohne Termin, ohne Priorisierung, auf Wunsch auch spontan nachts um drei. Insgesamt ließen sich aber nur 180 Neugierige blicken. Am Samstagabend brachen die Verantwortlichen im Allgäu die Aktion enttäuscht ab.
Einzelfall? Zufall? Pech? Aus dem Freistaat gibt es unterschiedliche Rückmeldungen. Wer am Sonntag zum Münchner Impfzentrum wollte, fand sich plötzlich in einer hunderte Meter langen Schlange wieder, die sich außen um zwei Parkplätze, Bushaltestellen und Taxistände wand, fast ausnahmslos entspannt wartende Impfwillige. Auch das ist Realität – doch in der Summe reift zumindest in der Staatsregierung die Erkenntnis: Die Nachfrage geht allmählich zurück.
Am Montag ist Impfgipfel in der Staatskanzlei, Treffen der Politik mit Experten, Apothekern, Ärzten. Anschließend steht ein besorgter Ministerpräsident vor den Kameras. „Wir spüren eine gewisse Müdigkeit“, sagt Markus Söder unumwunden. Bayern ist zurückgefallen, bei den Erstimpfungen mit 50,9 Prozent der Bevölkerung Vorletzter vor den besonders langsamen Sachsen; bei den Zweitimpfungen mit 35 Prozent Mittelfeld. Bis zu 13 Prozent der Dosen bleiben liegen, Termine verfallen. „Nicht der ganze Impfstoff wird immer genutzt. Da müssen wir besser werden.“
Bayern leitet nun einen Strategiewechsel ein. Die Priorisierung in den Impfzentren fällt diese Woche. Mit erhöhter Priorität warten noch 275 000 Bayern auf den Listen. Man weiß nicht genau, wie viele von ihnen wirklich einen Termin wollen und wie viele längst vom Hausarzt gepikst wurden und vergessen haben, sich vom Portal abzumelden. Spätestens ab Freitag soll die Software in den Impfzentren nun Termine für alle anbieten. Dann gilt für die Impfzentren wie für die Haus- und Betriebsärzte: Es schütze sich, wer mag – Junge, Alte, Gesunde, Vorerkrankte, Einzelhändler wie Einzelbürositzer.
Spannend ist auch, dass die vier Impfstoffe nicht mehr wie bisher oft per Zufall ausgewählt werden, sondern mit einer Strategie kombiniert. Die wenigen Dosen von Johnson & Johnson, bei denen eine Impfung reicht, sollen gezielt dorthin fließen, wo die Impfskepsis groß ist. Söder nennt „kulturell sensible Gruppen“ und meint Migranten. Sie von einem Impftermin zu überzeugen, fällt vielleicht leichter als von zwei.
Biontech soll für Jüngere reserviert werden: nicht nur, aber auch für die Schüler zwischen 12 und 18, für die nur dieser Stoff zugelassen ist. Im Juli sollen die Angebote für Abschlussklassen starten, bald auch für die Q11, im Herbst für Studenten. Söder warnt vor hohen Delta-Risiken in diesen Altersstufen.
Die Vorbehalte gegen Astrazeneca soll eine Kreuzimpfung mindern: Als zweite Dosis soll dann ein mRNA-Stoff wie Moderna gespritzt werden. Das gilt inzwischen als hocheffektiv – sogar die Kanzlerin ließ sich kreuzimpfen. Das geht auch schneller als das reine Astra-Doppel: Der Abstand zwischen den beiden Spritzen soll auf sechs bis acht Wochen schrumpfen. Das heißt: voller Impfschutz, auch gegen Delta und Co., nach zwei Monaten.
Mit dieser Taktik will Bayern im Ländervergleich aufholen. Dazu gehört, die Impfzentren über September hinaus weiter zu betreiben, auch mit mobilen Teams, die zum Beispiel Termine wie neulich in einer Nürnberger Moschee anbieten. Söder verlangt vom Bund, die Lieferungen an Bayern zu erhöhen, auf 100 000 Einwohner seien es bisher unterdurchschnittlich viele Dosen gewesen.
Bis zum Beginn der Sommerferien Ende Juli sollen laut Söder 70 Prozent der Menschen mindestens eine Impfung erhalten haben und mindestens die Hälfte der Bevölkerung die zweite. Anschieben will das die Staatsregierung nun auch mit einer Kampagne. Unter dem Slogan „Ich tu’s für …“ werben Prominente in Videos, mit Anzeigen, Plakaten und in Radiospots um Unentschlossene. Kabarettist Ottfried Fischer ist dabei, und sonst viele Köpfe, die man nicht mit Politik und schon gar nicht mit Söder in Verbindung bringen würde: Fußballstar Leroy Sané, die Sterneköche Alexander Herrmann und Ali Güngörmüs oder die farbige Rapperin Ashley.
In Teilen greift die Regierung damit auf, was die Opposition fordert: kürzere Impfintervalle etwa. Die SPD-Gesundheitspolitikerin Ruth Waldmann verlangt eine „Sonderimpfkampagne“ für Schüler ab 12 – gegen Langzeitfolgen und für Präsenz-unterricht im Herbst.
Zwei Sachen soll es nicht geben: Söder schließt eine Impfpflicht aus. Auch soll es keine Belohnungen geben. In Griechenland sollen 150 Euro an jeden Impfling unter 25 Jahren fließen (s. Kasten). In den USA werden Kreuzfahrten und Stipendien verlost und sogar kostenlose Snacks versprochen. Söder brummt, man verteile keine Geschenke für Geimpfte. Der Schutz für den Einzelnen und seine Familie sei wohl „ein größeres Motiv als eine Currywurst“.