München – Kürzlich startete Bismillah Mohammadi einen ungewöhnlichen Aufruf. In der nordafghanischen Provinz Faryab tobten heftige Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und den Taliban, die sich der Provinz-Hauptstadt Maimana bedenklich näherten. Um Maimana herum hatten sie schon gewütet und einen Bezirk nach dem anderen eingenommen. Mohammadi, gerade zum Verteidigungsminister ernannt, bat also die Bewohner der Region, mit den Soldaten zu kämpfen. Die Regierung werde sie mit dem Nötigen versorgen.
Das war vor anderthalb Wochen, aber schon lange vorher hatten Zivilisten begonnen, sich in Milizen zu organisieren. Inzwischen sind es tausende, oft Angehörige von Warlords, die zu den Waffen greifen, um nicht von den Taliban überrollt zu werden. Ihnen bleibt wenig übrig. Die afghanische Armee scheint bisweilen überfordert, Berichte über fliehende Soldaten häufen sich. Und der Westen will nicht mehr. Bis zum 11. September, vermutlich um einiges früher, sollen alle Truppen der USA und der Nato das Land verlassen haben.
Schon am Dienstag räumte die Bundeswehr ihren letzten Stützpunkt in Masar-i-Scharif, hastig und gesichert von KSK-Elitesoldaten. Es war das etwas verhuschte Ende des verlustreichsten und teuersten Einsatzes in der Bundeswehr-Geschichte. Er kostete nicht nur zwölf Milliarden Euro, sondern auch 59 Leben auf deutscher Seite. Die 1100 deutschen Soldaten, die noch vor Wochen für die Ausbildungsmission „Resolute Support“ im Land waren, hätten eigentlich noch bleiben sollen: Der Bundestag hatte das Mandat bis Januar 2022 verlängert. Die USA entschieden sich dann aber zum schnellen Abzug, die Nato zog nach.
Allein die Ankündigung habe ein „Beben“ im Land ausgelöst, sagte die UN-Sondergesandte Deborah Lyons vor einigen Tagen. Jahrelang warteten die Taliban darauf – nun sind sie dabei, das Land Stück für Stück zurückzuerobern. Schon jetzt kontrolliere man mehr als 150 der gut 400 Bezirke, sagte ein Taliban-Sprecher unlängst. Strategisch wichtige Provinzhauptstädte wie Kundus – früher ebenfalls Bundeswehrstandort – werden belagert. Lyons glaubt an ein mittelfristiges Ziel: Die Taliban „positionieren sich, um zu versuchen, diese Hauptstädte zu erobern, sobald die ausländischen Truppen vollständig abgezogen sind“.
Es ist nicht so, dass die afghanische Armee hilflos wäre. Doch ihre Erfolge sind überschaubar und ohne die Unterstützung der westlichen Verbündeten dürfte die Verteidigungsfähigkeit rasch abnehmen. Letztlich geht es also um die Frage, ob der 20-jährige Einsatz, ob die unzähligen zivilen Opfer – die UN gehen von 10 000 pro Jahr aus – umsonst waren.
„Der Abzug ist verantwortungslos“, sagt der deutsche Afghanistan-Analyst Thomas Ruttig. „Nicht nur gegenüber den Ortskräften, die nun sehen müssen, wie sie eventuell aus dem Land kommen, sondern gegenüber allen, die darauf vertraut haben, dass wir ihnen helfen, demokratische Verhältnisse zu etablieren.“ Ruttig beschäftigt sich seit 40 Jahren mit Afghanistan, er kennt sich aus wie nur wenige. Trotz der großen Gebietsgewinne der Taliban sieht er noch keinen grundlegenden Umschwung im Land. „Ich glaube nicht, dass sie Afghanistan schnell überrennen werden“, sagt er. „Aber das hängt letztlich davon ab, wie lange die Regierung stabil bleibt und wie lange die US-Militärhilfe weiter fließt.“
Vor einigen Tagen reiste Staatschef Aschraf Ghani zu Gesprächen nach Washington. Im Oval Office entstanden ein paar nette Bilder mit einem nachdenklichen US-Präsidenten, der Ghani auch für die Zeit nach dem Truppenabzug Unterstützung zusagte. Wie genau, das ließ er offen. Noch ist etwa unklar, ob die USA die afghanische Armee bei Luftschlägen gegen die Taliban unterstützen werden. Versuche, einen Luftstützpunkt im Taliban-freundlichen Nachbarland Pakistan einzurichten, scheiterten. Hilfe müsste also von den US-Militärbasen in Bahrain, Katar oder Kuwait aus kommen. Dazu braucht es wiederum Überflugrechte. Die Dinge werden komplizierter, sagt Ruttig. „Und die Reaktionszeit bei terroristischer Bedrohung deutlich länger“.
Den Taliban kommt all das entgegen, sie sehen die guten Zeiten erst anbrechen. Ihr Verhalten in der Zwischenphase ist dabei durchaus geschickt. Washington haben sie zugesichert, US-Truppen bis zu deren endgültigem Abzug nicht anzugreifen – umso härter gehen sie gegen afghanische Truppen vor. Kürzlich erst massakrierten sie im Norden des Landes eine 20-köpfige Elite-Einheit. Solche Nachrichten erzeugen Schrecken in der Bevölkerung und haben auch einen psychologischen Effekt. Sie suggerieren: Unser Sieg steht fest, wir sind nicht aufzuhalten.
Die Sorgen sind groß, auch auf Seiten der USA. „Die Sicherheitslage ist nicht gut“, sagte US-General Austin Scott Miller, der die US- und Nato-Truppen in Afghanistan befehligt, am Dienstag. Die zivile Führung des Landes müsse sich einigen und die Milizen unter Kontrolle halten. Sonst drohe ein Bürgerkrieg.
Gestern landete der Flieger mit den letzten deutschen Soldaten in Wunstorf. Die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) sprach von einem „bewegenden Moment“ und forderte den Bundestag auf, „kritisch und ehrlich Bilanz zu ziehen“. Sie dürfte ernüchternd ausfallen.