Der Erklärer der Marktwirtschaft

von Redaktion

VON SEBASTIAN HÖLZLE

München – Clemens Fuest, 52, ist immer wieder für eine Überraschung gut: Vor einigen Wochen sagte er in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Wenn Fachkräfte knapp sind, müssen die Löhne steigen.“ Im Arbeitgeberlager herrschte Aufruhr: Ausgerechnet Fuest, der wirtschaftsliberale Ökonomieprofessor aus München, will plötzlich das, was sonst nur Gewerkschaften fordern? Höhere Löhne?

Clemens Fuest – ausgesprochen „Fust“ nicht „Füst“ – ist seit gut fünf Jahren Präsident des ifo-Instituts in München und damit einer der einflussreichsten Ökonomen in Deutschland. Wenn in der Münchner Poschingerstraße der monatliche Geschäftsklimaindex veröffentlicht wird, kann das an der Frankfurter Börse die Aktienkurse auf Talfahrt schicken oder ein kleines Feuerwerk auslösen.

Von der Hektik an den Finanzmärkten ist im vornehmen Münchner Stadtteil Bogenhausen nichts zu spüren. Neoklassizistische Fassade, kleiner Säulenvorbau, verwunschenes Gärtchen im Innenhof – die ehemalige Künstlervilla aus dem Jahr 1910, in der das ifo-Institut beheimatet ist, schirmt die Volkswirte vom trubeligen Marktgeschehen ab. „Wie die Finanzmärkte unsere Zahlen interpretieren, braucht uns hier gar nicht zu kümmern – obwohl es natürlich interessant ist“, sagt Fuest.

Der ifo-Präsident, der in seiner Freizeit gerne in die Berge im Münchner Umland fährt und der sich selbst als einen „leidenschaftlichen Skifahrer“ bezeichnet, hat in einem Konferenzraum im ersten Stock des Altbaus Platz genommen. Es beginnt ein ausführliches Gespräch über sein Selbstverständnis als Ökonom, seine Rolle als ifo-Präsident – und wie seine Aussage zu höheren Löhnen zu verstehen ist. „Was ich in dem Interview gesagt habe, ist einfach nur ein ökonomisches Prinzip: Wenn ein Gut knapp ist, dann steigt der Preis, so funktioniert Marktwirtschaft.“

Übertragen auf den Arbeitsmarkt bedeutet das: Sind das „knappe Gut“ Beschäftigte in der Gastronomie oder in der Pflege, können sie bei ihrem Chef einen höheren „Preis“ für ihre Arbeit verlangen, also einen höheren Lohn. „Diese Beschreibung hat überhaupt keinen moralischen Unterton und ist auch nicht als Aussage zu verstehen, nach dem Motto: ,Ihr bezahlt eure Leute zu schlecht.‘“ Höhere Löhne seien schlicht die marktwirtschaftliche Antwort auf den Fachkräftemangel. „Und am Ende helfen die höheren Löhne auch den Arbeitgebern, an qualifiziertes Personal zu kommen.“

Fuest erklärt seine Sicht der Dinge ruhig und sachlich, auch wenn er weiß, dass solche Aussagen Debatten auslösen. „Ich verstehe gut, dass Arbeitgeber das nicht gerne hören, denn mit billigen Löhnen können sie naturgemäß besser umgehen.“ Die Reaktion von Industrieverbänden auf solche Aussagen bekomme er durchaus mit, da er mit ihnen in Kontakt stünde. „Aber wenn dann Widerspruch kommt, stachelt mich das eher an, diese Diskussion auch zu führen“, sagt Fuest.

Stoff für Debatten liefert Fuest reichlich: Als zu Jahresbeginn die zweite Corona-Welle abebbt, fordert Fuest eine „No-Covid-Strategie“. Interpretiert wird die Aussage so: Der ifo-Präsident will die Wirtschaft auf Null herunterfahren und zeitweise lahmlegen. Gemeint hatte Fuest: Die Inzidenz muss mit mehr FFP2-Masken, mehr Homeoffice und mehr Tests unter zehn gedrückt werden, dann ist die Pandemie unter Kontrolle – und die Wirtschaft kann im Normalmodus weiterlaufen.

Dass Fuests regelmäßig im Mittelpunkt von politischen Debatten steht, ist auch der Tatsache geschuldet, dass der Volkswirt Fernsehkameras und Scheinwerferlicht nicht scheut. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie war Fuest mehrmals zu Gast bei Markus Lanz im ZDF, in der ARD hatte er Auftritte bei Anne Will, Sandra Maischberger und „Hart aber fair“, hinzu kommen mehrere Live-Schalten in die „Tagesthemen“ nach Hamburg sowie ins „heute-journal“ nach Mainz. Fragt man in der Pressestelle des ifo-Instituts nach, wie oft Fuest seit Beginn der Corona-Pandemie zu Gast im öffentlich-rechtlichen Fernsehen war, heißt es nur, man zähle die Auftritte nicht, weil es so viele seien. Abgesehen von seinen Fernsehautritten vergeht auch kaum eine Woche, in der Fuest nicht irgendeiner Tageszeitung in Deutschland ein Interview gibt.

„Ich sehe mich selbst als Erklärer der Marktwirtschaft“, sagt Fuest und verweist auf fünf strategische Ziele, die sich das ifo-Institut selbst gegeben hat: Forschung, Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, Politikberatung, die Beteiligung an öffentlichen Debatten und das zur Verfügung stellen von Daten. „Ich frage mich in meiner Arbeit als ifo-Präsident täglich: Dient das, was ich tue, mindestens einem dieser fünf Ziele? Und da die Beteiligung an öffentlichen Debatten eines unsere Ziele ist, gehe ich natürlich auch ins Fernsehen, wenn ich eingeladen werde.“ Im Mittelpunkt seiner Arbeit stehe aber weiterhin die Forschung, betont Fuest.

Dass Fuest einmal im Wissenschaftsbetrieb Karriere machen würde, war keineswegs immer klar: „Als ich angefangen habe, Ökonomie zu studieren, habe ich das nicht mit der Absicht gemacht, Wissenschaftler zu werden“, sagt er. „Eigentlich wollte ich in die Industrie, die Wissenschaft habe ich zufällig entdeckt.“

Nach seinem Studium in Bochum und Mannheim Ende der 80er-Jahre promovierte er 1994, im Jahr 2001 wird er Professor für Volkswirtschaftslehre in Köln. „Je älter ich geworden bin, desto eher habe ich mich für die Politikberatung interessiert, also die Anwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen im politischen Prozess.“ Er gehöre einer Generation an, die aufgewachsen sei unter dem Eindruck und den Erfahrungen der 70er-Jahre und frühen 80er-Jahre, geprägt von einer hohen Inflation, wachsender Staatsverschuldung, dominiert von Poliikern wir Premierministerin Margaret Thatcher in Großbritannien und US-Präsident Ronald Reagan, begründet Fuest sein Interesse.

2003 steigt der Ökonom in die Politikberatung ein: Fuest wird Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums, ein von der Politik unabhängiges Gremium, wie Fuest betont. Aber was heißt Politikberatung ganz konkret?

Fuest vergleicht seine Rolle mit der eines Mediziners: „Wenn man einen Arzt fragt, wie sich eine Krankheit behandeln lässt, kann er ein Medikament nennen, das man einsetzen kann. Und wenn das Medikament Nebenwirkungen hat, kann der Arzt die Nebenwirkungen aufzählen“, erklärt Fuest. „Am Ende will der Patient aber wissen: Soll ich das Medikament jetzt trotz der Nebenwirkungen nehmen oder nicht? Und da nutzt der Arzt die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die es zu dem Medikament gibt, spricht eine klare Empfehlung aus.“

In seiner Arbeit als Politikberater sei das ähnlich. Und mit den Jahren ist Fuests Rat mehr und mehr gefragt: 2013 wird Fuest Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW), erstmals leitet er ein renommiertes Institut.

In München beginnt währenddessen das Rätselraten, wer am ifo-Institut auf Hans-Werner Sinn als Präsident nachfolgen wird. Sinn hat in seiner über 25-jährigen Präsidentschaft wie kaum ein anderer das ifo-Institut geprägt. In der Öffentlichkeit fiel er immer wieder durch provokante Thesen auf. Während der Euro-Krise 2013 warf Sinn der Europäischen Zentralbank (EZB) eine rechtswidrige Staatsfinanzierung vor, in der Flüchtlingskrise 2015 kritisierte Sinn die Einwanderungspolitik. Migranten kosten den deutschen Staat netto mehr als sie ihm brächten, argumentierte Sinn.

Würde auf Hans-Werner Sinn ein ähnlich streitlustiger Ökonom an der ifo-Spitze folgen? Und droht dem ehrwürdigen Institut eine Zukunft voller Konflikte? Denn eines war klar: Sinn würde auch als Pensionär weiterhin ein Büro in der Poschingerstraße beziehen. Von außen betrachtet schien es so, als drohe dem ifo-Institut eine Situation wie dem Vatikan, wo ein neuer Papst ins Amt gekommen ist, der Vorgänger aber immer noch präsent ist.

Nichts davon passierte. Angesprochen auf Sinn, ist Fuest voll des Lobes: „Man darf nicht vergessen: Hans-Werner Sinn war derjenige, der das ifo-Institut in einer schweren Krise neu ausgerichtet hat und es zu dem schlagkräftigen Institut ausgebaut hat, das es heute ist.“

Dennoch fällt auf, das Fuest in der Öffentlichkeit anders in Erscheinung tritt als Sinn: Mit Aussagen etwa zu höheren Löhnen oder einer „No-Covid-Strategie“ ist Fuest zwar immer wieder für eine Überraschung gut, er polarisiert aber bei Weitem nicht so stark wie sein Vorgänger.

Seine Fernsehauftritte will Fuest auch nicht als Instrument verstanden wissen, um seinen Argumenten in Gesprächen mit Politikern mehr Nachdruck zu verleihen. „Politikberatung verstehe ich sehr breit, dazu zählt nicht nur die Beratung von Politikern, sondern auch die Beratung von Wählern“, sagt Fuest. „Die Bürger brauchen Informationen über die Wirtschaft in diesem Land, um Sachverhalte beurteilen zu können.“ Und durch die vielen Gespräche lerne er selbst Neues. „In der Klimadebatte betont man als Ökonom beispielsweise sehr stark die Bedeutung eines CO2-Preises, für viele Menschen ist das aber nur schwer zu verstehen“, sagt Fuest. „Was viele Menschen beschäftigt, ist die Frage, was der Sprit an der Tankstelle kostet.“ Andere Menschen wiederum könnten mit einem abstrakten Instrument wie dem CO2-Preis überhaupt nichts anfangen. „Ich sehe daher meine Aufgabe als Ökonom darin, zu erklären, warum beispielsweise ein CO2-Preis zumindest aus ökonomischer Sicht die beste Methode ist, CO2-Emissionen zu reduzieren.“

Fuests öffentliche Rolle als Erklärer der Marktwirtschaft wird in Zukunft womöglich noch mehr gefragt sein als heute: „Wir erleben gerade eine Entwicklung in unserer Gesellschaft, in der der Rat von Experten zunehmend kritisch hinterfragt, von einigen Politikern und Parteien sogar zurückgewiesen wird “, sagt Fuest und nennt den Brexit als Beispiel. In Großbritannien wurde die Bevölkerung mit offensichtlichen Falschinformationen in die Irre geführt – die Wirtschaftsforschung blieb ungehört, auch wenn sich ihre Prognosen nach dem EU-Austritt der Briten am Ende bewahrheiteten. „Für uns Ökonomen bedeutet das, dass wir noch viel besser erklären müssen, wie unsere Positionen zustande kommen“, sagt Fuest. Das bedeutet auch: Von Fuest sind weitere Überraschungen zu erwarten.

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