Geretsried – Mit einer der letzten S-Bahnen erreichte der damals 25-Jährige am Vorabend des Mauerbaus West-Berlin. Das Bahn-Ticket hat er noch – eingeklebt in eine handgezeichnete Skizze seiner Flucht nach Stuttgart. Heute, 60 Jahre später, lebt Böttge in Geretsried im Kreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Er ist 85 Jahre alt, Diplom-Ingenieur im Ruhestand und Zeitzeuge. Seine Flucht hatte Horst Böttge lange im Voraus geplant. Dass sie ihm genau einen Tag vor dem Berliner Mauerbau am 13. August 1961 gelang, sei „pures Glück und Zufall“ gewesen, sagt er.
Es war eine Zeit der Massenflucht. Seit der Staatsgründung der DDR waren bereits 2,7 Millionen Menschen nach Westdeutschland geflohen. Das im Herzen der DDR gelegene Berlin mit seiner Westzone war ein großes Fluchtventil. Walter Ulbricht, erster Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) warnte im Juli 1961 auf einer Tagung des Zentralkomitees, es sei nicht gelungen, die Massen von der Politik „der Arbeiter- und Bauern-Macht“ zu überzeugen. Eine Lösung musste her.
An die Geschehnisse vor und nach dem Mauerbau erinnert sich Hörst Böttge gut. Er hatte gerade sein Studium der Fernmelde- und Hochfrequenztechnik in Dresden abgeschlossen, wollte promovieren. 1960 war das. Doch da funkte die DDR-Regierung dazwischen. Was heute kaum vorstellbar ist, war damals Ideologie: Arbeiterkinder wurden bei der Zulassung zur Promotion bevorzugt. Und da Böttge, wie er es ausdrückt, keine „proletarische Großmutter“ hatte und sein Vater Chef einer Brikettfabrik war, wurde es nichts mit der Promotion. „So fasste ich den Mut, die für mich vorgesehene Planstelle in Berlin abzulehnen“, erzählt Böttge.
Stattdessen nahm er eine Stelle als Laborleiter im brandenburgischen Teltow bei Berlin an. Die Stimmung in dem Institut für Halbleitertechnik sei bedrückend gewesen. Ein großer Teil der Führungskräfte war bereits in den Westen geflohen, die Mangelwirtschaft erschwerte das Arbeiten. „Wenn am Freitag jemand seinen Schreibtisch aufgeräumt hinterließ, bestand sofort der Verdacht, ihn am Montag nicht wiederzusehen“, erzählt Böttge. In der Belegschaft entwickelte sich eine explosive Mischung aus Kollegialität und Misstrauen. Denn jeder, der einen ihm bekannten Fluchtversuch nicht anzeigte, machte sich strafbar. „Permanent war Vorsicht angesagt – da man nie wusste, ob die Stasi im Hintergrund agiert“, sagt Böttge. Am Montagmorgen mit seinen Kollegen die neuesten politischen Witze auszutauschen – ein Risiko.
Die Skepsis gegenüber der DDR war in Böttge aber schon früher gereift. Mit erst 15 Jahren musste er miterleben, wie sein nur ein Jahr älterer Bruder zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Der Bruder hatte ein Lenin-Bild verunziert. Für das sowjetische Militärgericht kein Dummejungenstreich.
Dieses Ereignis prägte Horst Böttge und war ein wesentlicher Grund, der DDR den Rücken zu kehren. Ein ganzes Jahr nahm er sich Zeit, um seine Flucht systematisch vorzubereiten, denn auch vor der Mauer waren die Grenzen schon massiv gesichert. Verwandte organisierten ihm ein Flugticket von Berlin-Tempelhof nach Stuttgart. Seine Fachbücher und Hochschulunterlagen – das Wichtigste für ihn – deponierte er bei einem Freund der Familie in West-Berlin. Sieben schwere Pakete, die bald auf dem Weg nach Stuttgart waren. Als Tarnung beantragte Böttge ein Aufbaustudium in Leningrad – und bekam eine Zusage.
Am 12. August 1961 war Böttges Tag: Von einer Reise mit dem Urlaubsschiff „Fritz Heckert“ nach Island und Norwegen kam er morgens in Warnemünde in Mecklenburg-Vorpommern an. Während die anderen Passagiere zur Besichtigung in Warnemünde blieben, machte sich Böttge direkt auf den Weg nach Berlin. Nicht mal die Eltern, nur sein Bruder und ein Onkel waren eingeweiht. Ohne nochmals in seine Wohnung zurückzukehren, fuhr er gegen 21 Uhr abends mit der S-Bahn von der Berliner Haltestelle Friedrichstraße direkt nach West-Berlin. Einen Tag später wäre es ihm nicht mehr möglich gewesen, denn nicht nur Horst Böttge plante einen gewagten Coup.
Erich Honecker, später Parteichef und damals im Politbüro für Sicherheitsfragen zuständig, hatte unter strengster Geheimhaltung alle Vorbereitungen für den Mauerbau getroffen, um der „Wühltätigkeit“, wie der Ministerrat die Fluchtwelle umschrieb, ein Ende zu bereiten.
Am 13. August, 0.00 Uhr war es so weit: Soldaten und Volkspolizisten marschierten auf, Kampfpanzer bezogen an der Sektorengrenze zu West-Berlin Stellung, Stacheldraht wurde ausgerollt. Der Bau der Mauer begann.
Böttge flog derweil von West-Berlin nach Stuttgart. Dort lebte ein ehemaliger Sportkollege aus Gymnasiumszeiten, der schon vorher geflohen war. Ihm hatte Böttge geholfen, sein Hab und Gut heimlich nach West-Berlin zu bringen. Jetzt revanchierte sich der Freund, verhalf Böttge zu einer Stelle als Entwicklungsingenieur.
„Bis zum Mauerfall bin ich nie wieder in die DDR gereist“, sagt Böttge. 1965 zog er nach München, promovierte, heiratete, hat zwei Kinder. Seit Anfang der 70er-Jahre lebt er mit seiner Frau nun schon in Geretsried, und bis heute setzt er sich dafür ein, dass die DDR-Zeit nicht in Vergessenheit gerät. Das Schicksal seines Bruders schrieb er im Buch „Drangsaliert und dekoriert – Von der Kunst des Überlebens in der DDR“ nieder. Er hält Lesungen an Bibliotheken, Gedenkstätten und vorwiegend Gymnasien. Gerade bereitet er auf Wunsch von Lehrern des Münchner Luisen-Gymnasiums weitere Vorträge vor.
Zum 60. Jahrestag seiner Flucht hatte sich Böttge was ausgedacht. Gestern lud er nach dem Tennistraining seine Spielpartner zu Pizza und Getränken ein – und die mussten raten, was der Anlass ist. Eine Hochzeit? Das Haus verkauft? Ein Enkelkind? Oder gar noch ein drittes eigenes? „Da war einiges dabei, aber nicht das richtige“, erzählt Böttge schmunzelnd. „Keiner von denen hatte ein ähnliches Erlebnis wie ich“, sagt er. „Und der Mauerbau ist jetzt halt schon 60 Jahre her.“