Verzweifelter Kampf um Flug in die Freiheit

von Redaktion

VON WOLFGANG HAUSKRECHT UND SUSANNE SASSE mit dpa/afp

Kabul/München – „Es ist unvorstellbar schrecklich“, sagt Mariam Azizi (Name geändert). Mariam, 23, ist in München geboren, studiert hier Philosophie. Aber drei Brüder ihrer Mutter leben mit ihren Familien noch in Kabul. Und auch sie versuchen, den Flughafen zu erreichen. „ Wir versuchen seit Tagen, jemanden von den Amerikanern zu erreichen – aber vergebens, denn die Botschaft ist geschlossen“, erzählt Mariam.

Ein Onkel hat mit der US-Botschaft zusammengearbeitet. „Ein Anruf würde reichen, und er und die Familie dürften in ein Flugzeug steigen“, sagt die 23-Jährige mit den Tränen kämpfend. Ein Onkel habe ihr gesagt, er sei bewaffnet – für den Fall, dass die Taliban sein Haus stürmten. „Sie haben schon damit begonnen, in Kabul die Häuser zu plündern.“ In keinem Fall wollen die Onkel ihre Familien der Willkür der Taliban überlassen. „Sie sagen, es sei besser zu sterben, als in die Hände der Taliban zu fallen.“ Mariams Appell: „Ich bitte die westlichen Länder, die Menschen, die sie unterstützt haben, nicht im Stich zu lassen.“

Nicht im Stich lassen – kein leichtes Unterfangen in diesen Stunden. Die Taliban haben Kabul unter Kontrolle und der Flughafen war gestern außer Kontrolle. Tausende sind zum Flughafen geströmt. Die einen, weil sie evakuiert werden sollen, andere mit einem regulären Flugticket, wieder andere auf gut Glück. Ein afghanischer Offizier schilderte, wie dutzende Afghanen einfach über die Ladeluke eine US-Militärmaschine stürmten. US-Soldaten hätten vergeblich versucht, sie mit Tränengas und Schlägen zu vertreiben. Auch er habe sich reingeschlichen. Die Maschine sei dann einfach so gestartet. Afghanen sitzen auf wartenden Flugzeugen, Frauen mit Kindern auf den Startbahnen. In Scharen laufen sie neben startenden Maschinen her. Schüsse sollen gefallen, Menschen gestorben sein. In sozialen Netzwerken kursieren Videos, auf denen zu sehen sein soll, wie Menschen abstürzen, die sich an ein Militärflugzeug geklammert haben. Die Videos sind jedoch nicht verifiziert.

Die USA schicken nun weitere Soldaten und haben die Evakuierungen bis heute ausgesetzt. Man müsse erst wieder Ordnung und Sicherheit am Flughafen herstellen, hieß es aus dem Weißen Haus. In Kürze sollen bis zu 5000 Soldaten vor Ort sein. Auch die Evakuierung deutscher Staatsbürger hat begonnen – und von Afghanen, die unter anderem für die deutschen Streitkräfte gearbeitet haben. Menschen, die um ihre Familien fürchten, weil die Taliban sie als Kollaborateure betrachten. Inklusive Angehöriger geht es laut Kanzlerin Angela Merkel insgesamt um eine Gruppe von rund 10 000 Menschen. Diejenigen rund 350 von ihnen, die sich in Kabul in die „Safe Houses“ genannten Sammelunterkünfte des deutschen Patenschaftsnetzwerks Afghanischer Ortskräfte geflüchtet hatten, mussten diese gestern verlassen. Denn da die Taliban Häuser durchsuchten, seien die Unterkünfte „Todesfallen“, sagte der Vorsitzende Marcus Grotian.

Bereits in der Nacht zu Montag landeten 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha. Wenige Stunden später starteten am Morgen die ersten drei Militärmaschinen der Bundeswehr mit Fallschirmjägern Richtung Kabul. Sie sollen die Evakuierung absichern. Es ist die bislang wohl größte Mission dieser Art der Bundeswehr – und eine gefährliche. Denn niemand weiß, wie lange die Taliban dem Flughafen fernbleiben. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) beschrieb den Auftrag der Bundeswehr so: „Solange es die Möglichkeiten vor Ort zulassen, so viele Menschen wie möglich aus Kabul, aus Afghanistan rausholen.“

Die Bundeswehrmaschinen vom Typ A400M sollen eine Luftbrücke aufbauen. Wegen der Zustände am Flughafen bekam der erste aber gestern erst spätabends eine Landeerlaubnis in Kabul. Die Maschinen fassen 114 Passagiere und haben eine Raketenabwehr.

Klar ist: Deutschland ist von der Rückendeckung der US-Streitkräfte abhängig. Ziehen sie ab, dürften auch die deutschen Evakuierungsflüge bald zum Erliegen kommen.

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