München/Kabul – Die Bilder, die kurz nach dem Anschlag über das Internetportal „Twitter“ aus Afghanistan kamen, lassen die Wucht des Anschlags erahnen: Menschen schleppen blutüberströmte Verletzte weg, andere schieben sie in Schubkarren davon. Auf einem Video liegen viele Opfer nebeneinander. Ob sie verletzt oder tot sind, lässt sich nicht sagen. Unter den Todesopfern sollen auch Kinder gewesen sein. Nach Angaben der US-Regierung sind zwölf amerikanische Soldaten getötet worden. Das sagte US-General Kenneth McKenzie, der das US-Zentralkommando Centcom führt. 15 US-Soldaten seien verletzt worden. Deutsche Soldaten waren offiziellen Angaben zufolge nicht betroffen.
Familie Ahmadi konnte noch rechtzeitig fliehen
Pentagon-Sprecher John Kirby erklärte etwa zwei Stunden nach den Explosionen, es habe sich um einen „komplexen Angriff“ gehandelt. Eine Detonation habe es nahe dem Flughafenzugang „Abbey Gate“ gegeben. Außerdem habe sich „mindestens“ eine weitere Explosion am nahe gelegenen „Baron Hotel“ ereignet.
Seit Tagen war die Lage rund um den Flughafen in Kabul angespannt. Tausende Menschen drängten sich um die Tore, reckten Papiere in die Höhe, hoffend auf Einlass und einen Platz in einem Militärflugzeug. Ein Augenzeuge berichtete, die Menschen drängten sich „wie Ziegel einer Mauer“ zusammen. Zum Eingang des Flughafens zu kommen, sei unmöglich. Auch Berichte über Menschen, die in den Massen erdrückt werden, gab es vermehrt. Das Areal um den Flughafen zu räumen, war trotz des drohenden Anschlags unmöglich.
Auch Deniz Ahmadi (Name geändert) war bis Donnerstagmorgen am Abbey Gate. Ahmadi hatte (wir berichteten) jahrelang als Fluglotse für die Bundeswehr gearbeitet und am Mittwoch endlich eine Nachricht der deutschen Botschaft in Kabul bekommen, mit seiner Frau und den beiden kleinen Söhnen zur Evakuierung zum Abbey Gate zu kommen. „Da waren tausende Menschen“, berichtete Ahmadi gestern im Telefonat mit unserer Zeitung. „Alle haben versucht, einen Weg ins Flughafengebäude zu finden. Wir haben die ganze Nacht gewartet“, sagt er. „Aber in den 24 Stunden am Flughafen haben wir nicht einen deutschen Soldaten gesehen.“ Die Ahmadis entschieden sich, zurück in ihren Unterschlupf bei Bekannten in Kabul zu gehen. „Wären wir ein paar Stunden länger geblieben“, so der Fluglotse, „dann wären wir jetzt tot.“
IS reklamiert Anschlag für sich
Die Dschihadistenmiliz IS reklamierte am Abend den Kabul-Anschlag für sich. Die Geheimdienste mehrerer Länder hatten im Vorfeld bereits Hinweise darauf, dass der IS einen Anschlag am Flughafen plane. Und die Zeit für die Attentäter drängte, denn die Evakuierungsflüge standen gestern kurz vor ihrem Abschluss. Die US-Amerikaner wollen spätestens am Dienstag den Flughafen geräumt haben. Viele europäische Länder, darunter auch Deutschland, setzten gestern schon einen Schlusspunkt. Nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat die Luftwaffe alle deutschen Soldaten, Diplomaten und verbliebenen Polizisten aus der afghanischen Hauptstadt Kabul ausgeflogen. Kramp-Karrenbauer und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betonten aber, dass die Bundesregierung weiter versuchen werde, schutzbedürftigen Menschen die Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen. „Wir beenden die Luftbrücke mit dem heutigen Tag“, sagte Merkel auf einer eigenen Pressekonferenz. „Wir sind mit Hochdruck und Nachdruck dabei, eben Bedingungen auszuhandeln mit den Taliban darüber, wie weitere Ausreisen auch möglich sein werden.“
Seit 16. August evakuierte die Deutsche Bundeswehr mit Unterstützung des „Kommando Spezialkräfte“ (KSK) deutsche Bürger sowie einheimische Mitarbeiter aus Kabul. Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn sagte, die Bundeswehr habe seit Beginn des Einsatzes am 16. August 5200 Menschen aus 45 Nationen ausgeflogen, darunter 4200 Afghanen und 505 deutsche Staatsbürger. Gestern kamen noch einmal 154 Menschen dazu.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hatte gestern – vor dem Anschlag – seine Enttäuschung über den bevorstehenden Abzug der US-Truppen zum Ausdruck gebracht. Dass ausgerechnet die Amerikaner, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Luftbrücke Millionen von Menschen in Deutschland geholfen hätten, sich jetzt nicht zur Fortsetzung der Rettungsmission in der Lage sähen, sei „eine bittere Enttäuschung“, sagte der Unionskanzlerkandidat. Der Abzug bedeute „erneut eine Niederlage des Westens gegenüber einem autoritären, mittelalterlichen Gewaltdenken der Taliban.“
Die Bundesregierung hofft nun darauf, mit den radikalislamischen Taliban zivile Evakuierungsmöglichkeiten aus Afghanistan nach Ende der militärischen Luftbrücke auszuhandeln. Außen-Staatsminister Niels Annen (SPD) erklärte, man sei „im Gespräch mit den Taliban in Doha wie auch mit Nachbarländern Afghanistans, etwa Pakistan, um die Evakuierung auf ziviler Basis auch nach dem 31. August weiterzuführen.“
Der deutsche Botschafter Markus Potzel, der in Doha mit den Taliban verhandelt, hatte bereits am Mittwoch erklärt, die Islamisten hätten zugesagt, auch nach dem vollständigen Abzug der internationalen Truppen weiter Afghanen aus dem Land ausreisen zu lassen. Voraussetzung seien „gültige Dokumente“. Unterdessen hat sich am späten Abend eine weitere Explosion in Kabul ereignet. Dabei soll es sich aber um eine gezielte Zerstörung von Munition durch die US-Armee gehandelt haben.