München/Wolfratshausen – Dass die Sache dermaßen hochkocht, das hat Josef Niedermaier nicht gedacht. Der 57-Jährige trägt seit mehr als 20 Jahren Verantwortung in der Kommunalpolitik – erst als Tölzer Bürgermeister, seit 2008 als Landrat des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen. Er hat viel mitgemacht, sagt er. „Aber so eine extrem aggressive Stimmung habe ich nicht oft erlebt.“
Was war passiert? Ende April gerieten Papiere an die Öffentlichkeit, die sich mit der Zukunft der Kreisklinik in Wolfratshausen beschäftigen. Das Haus schreibt rote Zahlen. 1 bis 3 Millionen Euro musste der Landkreis zuletzt jährlich zuschießen, um die Defizite auszugleichen. In den Papieren seien mithilfe einer Unternehmensberatung Möglichkeiten und auch „Extrempositionen“ durchgegangen worden, sagt Niedermaier – „Gedankenspiele“, die obendrein nicht einmal mehr aktuell gewesen seien. Plötzlich standen diese „Gedankenspiele“ aber in der Zeitung. Gerüchte über eine Schließung des Krankenhauses machten die Runde.
Einen bayerischen Landrat kann wohl kaum ein schwererer Vorwurf treffen, als dass er die Schließung des eigenen Krankenhauses vorantreibe. Wer in der Kommunalpolitik noch Ziele hat, meidet in der Regel schon den leisesten Verdacht in diese Richtung. Man kann Bauprojekte versemmeln oder auf andere Weise Geld in den Sand setzen. Die Wähler verzeihen manches. Aber das örtliche Krankenhaus braucht jeder irgendwann.
Obwohl auch Niedermaier (Freie Wähler) betonte, dass die stationäre Versorgung in Wolfratshausen aufrechterhalten werden soll, ist er in den vergangenen Monaten für einen Teil seines Landkreises zum Feindbild geworden. Als Landrat sei er „nur noch peinlich“ und „nicht mehr tragbar“, las man über ihn in Facebook-Foren. Auch persönlich wurde er immer wieder recht unfreundlich angesprochen, erzählt er. Und als er vorhatte, eine Demonstration auf dem Wolfratshauser Marienplatz zu besuchen, riet ihm die Polizei, dort besser nicht aufzutauchen. Niedermaier hielt sich daran. „Auch wenn das normalerweise nicht meine Art ist.“
Inzwischen hat der Landkreis neben der Schließung auch einen Verkauf der Klinik ausgeschlossen. Landrat Niedermaier hofft, dass nun über den Sommer wieder etwas Ruhe einkehrt. Doch die roten Zahlen bleiben – genauso wie die Frage, die dahintersteht: Warum können sich Kommunen die eigene Klinik immer schwerer leisten? Wolfratshausen ist schließlich kein Einzelfall. Jedes zweite Krankenhaus in Bayern macht Minus. „Ich bin nicht der erste Landrat, der diese Diskussionen mitmacht“, sagt Niedermaier. „Und ich werde auch nicht der letzte sein.“
Die Bayerische Krankenhausgesellschaft vertritt die Interessen von mehr als 190 – oft kommunalen – Krankenhausträgern und ihren rund 360 Kliniken. Geschäftsführer Roland Engehausen erkennt das Hauptproblem im derzeitigen Finanzierungssystem, das eine „strukturelle Unterfinanzierung in der Regel- und Grundversorgung“ verursache. Das bedeutet: Für die ganz alltäglichen Krankenhausfälle erhalten die Kliniken vergleichsweise wenig Geld. Für die besser vergüteten Behandlungen braucht es hingegen Spezialwissen und eine technische Ausstattung, mit der kleinere Häuser wie viele klassische Kreiskliniken nicht aufwarten können. Zudem gelten teils Mindestmengen. Das heißt, Kliniken können eine Behandlung nur abrechnen, wenn sie sie regelmäßig durchführen. Europaweit agierende Klinikketten kündigen deshalb an, die Spezialisierung zu verstärken und den Verkauf von Häusern zu prüfen, die Mindestmengenanforderungen nicht erfüllen.
„Es ist aber nicht gut, wenn es nur noch Krankenhäuser gibt, die sich spezialisieren und und auf Menge ausgelegt sind“, sagt Engehausen. Jede Region brauche das volle Leistungsspektrum. „Gerade in der Notfallversorgung oder in der Geriatrie ist Wohnortnähe wichtig.“ Was hilft eingeschränkten älteren Menschen schließlich ein Behandlungsangebot, für das sie erst mal 100 Kilometer fahren müssen? Für die Krankenhäuser, die die Versorgung in der Fläche sicherstellen, brauche es deshalb eine Vorhaltefinanzierung, fordert Engehausen. Ihr Betrieb soll also finanziert werden – unabhängig davon, wie das Geschäft gerade läuft.
Eine Studie, die 2019 ins Gesundheitswesen einschlug wie eine Bombe, kommt hingegen zu ganz anderen Schlüssen. Unter dem Titel „Zukunftsfähige Krankenhausversorgung“ empfehlen darin Experten der Bertelsmann-Stiftung, mehr als die Hälfte der deutschen Krankenhäuser zu schließen. Statt mit bundesweit knapp 1400 Kliniken komme das Land auch mit weniger als 600 aus – und die Qualität der Behandlung würde dadurch noch steigen. Denn mit deutlich weniger, aber größeren Häusern wären eine bessere Ausstattung, eine höhere Spezialisierung sowie eine bessere Betreuung möglich.
Auch Sigrid König hält das derzeitige Netz aus vielen kleinen Kliniken für nicht mehr zeitgemäß. „Aus dem medizinischen Fortschritt folgen höhere Standards in der Versorgung, die nicht jedes Krankenhaus erfüllen kann“, sagt die Vorständin des Bayerischen Landesverbands der Betriebskrankenkassen (BKK). Um beispielsweise einen Verdacht auf Herzinfarkt abzuklären, brauche es ein rund um die Uhr besetztes Linksherzkatheter-Labor. Ein Kardiologe müsse vor Ort sein, ein Radiologe und weitere Fachkräfte. „Dies an jedem Krankenhaus vorzuhalten, sprengt jede Vorstellung von einer wirtschaftlichen Leistungserbringung“, sagt König, die als Kassenchefin die Kosten im Blick hat. Und die sind tatsächlich gigantisch. Das gesamte Ausgabenvolumen für deutsche Krankenhäuser belief sich 2019 auf 100,8 Milliarden Euro. Vor allem aber sei „entsprechend qualifiziertes Personal in der erforderlichen Menge nicht verfügbar.“ Dass in Bayern mehr als 400 Krankenhäuser um Mitarbeiter und Patienten konkurrierten, sei „fatal“ für die Versorgungsqualität. Eine Einschätzung, die auch im politischen Berlin von vielen Gesundheitspolitikern geteilt wird. Nach der Bundestagswahl könnte der Druck auf kleinere Krankenhäuser also noch steigen.
Dass nicht alles bleiben kann, wie es ist, glaubt grundsätzlich auch BKG-Chef Engehausen. Ein Strukturwandel sei nötig. Und das ein oder andere Krankenhaus werde diesen Prozess vielleicht auch nicht überleben. Um ihre Zukunft zu sichern, müssten die Häuser ihr Leistungsspektrum innerhalb einer Region miteinander abstimmen. „Es gibt den Bedarf sich zu verbünden.“ Auch die vielerorts gefürchteten privaten Klinikbetreiber will Engehausen nicht als Partner ausschließen. Zwischen den einzelnen Unternehmen gebe es große Unterschiede, und gerade in Bayern gelte: „Nicht jeder private Träger ist nur auf Rendite aus.“ Sich in einem Gebiet Konkurrenz zu machen, sei auf der anderen Seite schlicht nicht sinnvoll. „Es geht ja nicht um freien Markt, sondern um die Versorgung von Patienten“, sagt Engehausen.
Tatsächlich misst sich ein Krankenhaus wie die Wolfratshauser Kreisklinik im Münchner Speckgürtel nicht nur mit den Nachbar-Häusern in Bad Tölz, Starnberg, Penzberg, Weilheim, Garmisch oder Agatharied, sondern auch mit den Spitzenmedizin-Standorten in Harlaching, Großhadern oder Schwabing. Zur Folge hat das laut Landrat Niedermaier, dass das Wolfratshauser Krankenhaus nur 25 Prozent der Grundversorgungs-Behandlungen in seinem Einzugsgebiet durchführt. „Der Bürger sucht sich aus, wo er hingeht“, sagt der Kommunalpolitiker. Am Ende sind es also auch die Patienten selbst, die darüber bestimmen, wo in zehn Jahren noch ein Krankenhaus steht.