München – An die 10 000 Leichen hat Professor Oliver Peschel schon obduziert. Seit fünf Jahren aber landet eine Leiche immer wieder auf seinem Tisch: Ötzi, der Mann aus dem Eis. Das Südtiroler Archäologiemuseum hat den Grafinger (Kreis Ebersberg) zum Konservierungsbeauftragten ernannt, damit Ötzi der Nachwelt erhalten bleibt. Im Interview spricht Peschel, der am Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität arbeitet und auch Polizisten ausbildet, über seine Wochenendbeziehung zu einer Mumie, die am Sonntag vor 30 Jahren von Bergsteigern entdeckt wurde.
Herr Peschel, Sie verbringen viel Zeit mit Ötzi. Träumen Sie auch manchmal von ihm?
Wissentlich ist er mir noch nicht im Traum erschienen. Aber einige Träume haben sich am Fundort abgespielt.
Waren Sie schon mal dort?
Ja, ich glaube sieben Mal. Das Tisenjoch ist eine fast unwirkliche Landschaft im Hochgebirge. Viel Eis und Schnee, selbst im Sommer. An der Stelle zu stehen gibt einem einen ganz anderen Eindruck, als es Fotos je könnten. Wenn ich dort bin, stelle ich mir immer wieder die selbe Frage: Wie ist Ötzi gestorben? Im Grunde ist es ja ein Tatort, weil wir wissen, dass Ötzi durch einen Pfeil in den Rücken gestorben ist.
Also kein Jagdunfall?
An Ötzis Bogen fehlt die Sehne. Und nur zwei seiner Pfeile sind intakt. Wäre er auf der Jagd gewesen, wären seine Instrumente doch vollständig. Ich glaube, er musste alles hastig zusammenpacken und fliehen. Wenige Tage vor seinem Tod war er wohl in eine Auseinandersetzung verwickelt. Zwischen Daumen und Zeigefinger hat er eine heftige Abwehrverletzung, also griff er wohl in eine Messerschneide oder Ähnliches.
Ein echter Mordfall …
Als Rechtsmediziner will ich auch die Tat rekonstruieren. Am Fundort hat man den besten Blick auf das Tisenjoch. Wer da sitzt und sich duckt, wird nicht gesehen. Wer auch immer Ötzi verfolgte, konnte sich aber auch unbemerkt anschleichen. 2001 wurde die Pfeilspitze, die in Ötzis Schulter steckte, gefunden. Bis heute kann aber niemand sagen, aus welcher Richtung der Pfeil kam – und warum Ötzi angegriffen wurde.
Wann haben Sie Ötzi zum ersten Mal gesehen?
Als Ötzi 1991 gefunden wurde, war ich gerade mit dem Studium fertig. Nachdem er 1998 nach Bozen zurückgebracht wurde, habe ich ihn besucht. 2011 nahm mich der damalige Konservierungsbeauftragte Egarter Vigl ins Team auf, das Gewebeproben aus Ötzis Magen entnahm. Das war bemerkenswert. Wir erfuhren, dass Ötzi kurz vor seinem Tod Rothirsch und Steinbock gegessen hatte.
Wie geht es Ötzi heute?
Die Konservierungsmaßnamen, die Egarter Vigl 1998 eingeleitet hat, sind sehr nah am Ideal. So wie der Leichnam über 5000 Jahre im Gletscher erhalten blieb, erhält er sich auch jetzt. Und das gibt es weltweit kein zweites Mal.
Wie bleibt er so frisch?
Wir stellen die Verhältnisse im Gletscher nach. Ötzi liegt auf einer Glasplatte in einer Kühlzelle. Sie wird auf minus sieben Grad runtergekühlt. Und weil es im Gletscher ja auch nass ist, liegt die Luftfeuchtigkeit bei fast 100 Prozent. Die Höhe tat damals ihr Übriges: Weder Tiere noch Fliegen haben Ötzis Weichgewebe zerfressen.
Was macht Ötzi am meisten zu schaffen?
Zu viel Licht würde Ötzis schützende Glasur auf Dauer schmelzen lassen. Im Gletscher lag er über 5000 Jahre im Dunkeln. So ist es jetzt auch im Museum. Nur wenn ein Besucher durch das kleine Fenster blickt und auf das Trittbrett steigt, geht das Licht in der Kühlkammer an.
Wie entsteht denn genau Ötzis Schutzglasur?
Mit einer Art Airbrush-Pistole sprühen wir destilliertes und DNA-freies Wasser auf seinen Körper, das sofort gefriert. So bildet sich eine dünne Eisschicht – wie Zuckerglasur auf einem Kuchen. Sie dient als mechanischer Schutz, wenn wir Ötzi bewegen müssen, schützt ihn aber auch vor Austrocknung oder Pilzen und Bakterien.
Wie oft besuchen Sie Ötzi?
Ein, zwei Mal im Monat. Ich leite ein Team, das sonst aus drei Technikern und einer Pathologin besteht. Wir haben es bei Ötzi ja nicht mit einer palliativen Pflegesituation zu tun. Zum Glück müssen wir nicht rund um die Uhr Händchen halten (lacht). Wenn wir ihn behandeln, tragen wir sterile OP-Kittel, Handschuhe, Hauben und Maske – und müssen uns warm anziehen.
Wie lange dauert das?
Maximal eine halbe Stunde. Je kürzer, desto geringer das Risiko, Ötzi zu kontaminieren. Wir arbeiten schnell und konzentriert: rausholen, besprühen, wenden, besprühen, wenden, zurückschieben.
Sie sind also potenziell eine Gefahr für Ötzi?
Viele Keime können ja nur lebenden Zellen gefährlich werden. Trotzdem arbeiten wir so keimreduziert wie möglich. Denn Ötzi besitzt noch Eiweiß- und Bindegewebsteile, sogenannte Kollagene, die Bakterien und Pilze noch verstoffwechseln könnten. Obwohl es auch kälteliebende Keime gibt – auch Gletscher sind ja nicht steril –, wäre das bei den Temperaturen aber sehr unwahrscheinlich.
Das Coronavirus ging spurlos an ihm vorbei …
Ja. Ötzi musste schon immer mit permanenten Kontaktbeschränkungen leben. (lacht)
Muss Ötzi bei jedem Ihrer Besuche Proben lassen?
Nein. Für Gewebeproben müssen wir Ötzi ja an- oder auftauen. Die letzte Untersuchung fand 2019 statt und davor das letzte Mal 2011. Wir planen vor und führen Gewebeentnahmen für diverse Forschungsaspekte gebündelt durch. Ötzi kommt auch regelmäßig ins CT. Zuletzt diesen Frühling und davor 2013.
Forschungsobjekt, Leiche oder gar alter Bekannter: Was genau ist Ötzi für Sie?
Für den „alten Bekannten“ ist die Kommunikation wohl etwas einseitig. Nur Untersuchungsobjekt, das würde ihm auch nicht gerecht. Für mich sind alle Leichen verstorbene Menschen. Ihnen gebührt Respekt, auch wenn der Tod schon 5300 Jahre her ist. Zugegeben: Das hebt ihn von anderen Leichen ab. Er hat so viel Zeit auf der Erde verbracht, egal in welchem Aggregatszustand. Daher liegt er mir schon am Herzen.
Haben Sie eigentlich den Film „Der Mann aus dem Eis“ mit Jürgen Vogel gesehen?
Mehrfach sogar – und auf der Premiere war ich auch! Ich finde die Abbildung realistisch. Auf der Premiere fragte ein Zuschauer, warum der Film so viel Gewalt zeigt. Na ja, das ist kein Effekt, sondern Fakt. Skeletteserien aus dieser Zeit zeigen, dass früher mehr Menschen gewaltsam zu Tode kamen. Gewalt gehörte eben zum Alltag.
Welche Frage würden Sie Ötzi gerne stellen?
Was ist dir passiert, bevor du gestorben bist? Das bewegt uns Rechtsmediziner.
Was ist so faszinierend am Mann aus dem Eis?
Ötzi ist wie ein Blick durch das Schlüsselloch in die Vergangenheit. Auch die Beifunde sind da wichtig. Die Nähte an Ötzis Ledermantel sind präzise gefertigt – es wurden sogar modische Akzente gesetzt. Seine Bärenfellmütze mit Klappohren könnten wir heute noch so kaufen. Er trug Wanderschuhe, isoliert wie ein Moonboot. Das zeigt, wie unsere Ahnen ihr Handwerk ausgeübt und durch Erfahrung verbessert haben. Sie haben Dinge umkonstruiert.
Können wir heute noch etwas von Ötzi lernen?
Absolut, er war ja Überlebenskünstler. Weil er sich in der Natur auskannte, konnte er in einer Gegend unterwegs sein, in der die meisten Menschen heute völlig aufgeschmissen wären. Sie wären dort oben weder in der Lage, sich allein zu ernähren noch sich vor einem Unwetter zu schützen. Ötzi lebte in diesem Umfeld und war mit etwa 45 Jahren für damalige Verhältnisse ein alter Mann.
Heute ist er ein Besuchermagnet. Warum?
Wer ihn ansieht, sieht seine eigene Herkunft. Zudem hat der Mensch das Bedürfnis, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Klar, Ötzi hat eine braune Färbung und keine Haare wegen der feuchten Mumifizierung. Aber er sieht dennoch wie wir alle aus.
Wird Ötzi uns für immer erhalten bleiben?
Der Brandner-Kaspar-Effekt klingt pathetisch, aber ja: Unser Ziel ist es, Ötzi so lange wie möglich in dem Zustand zu erhalten. Nicht um ihn wie einen Heiligen zu verehren – für Forschung und Lehre.
Hat sich die Art der Konservierung verändert?
Anfangs wurde er nur kühl und dunkel gelagert. Die Idee der Eisglasur hat Egarter Vigl entwickelt. Bis jetzt scheint das ideal. Trotzdem fragen wir uns immer, ob es noch besser ginge. Jede Veränderung hat aber ein gewisses Risiko. Was 2051 möglich sein wird, können wir nur erahnen. Ich hoffe, dass Ötzi bis dahin im jetzigen Zustand bleibt. Bisher hat er es 5300 Jahre ausgehalten und es spricht nichts dagegen, ihn so die nächsten Jahrhunderte zu erhalten.
Wird Ötzi irgendwann auf Tournee gehen?
Reisen planen wir nicht, aber Ötzi wird umziehen, sobald das neue Archäologiemuseum fertig ist.
Wie lange bleiben Sie Konservierungsbeauftragter?
Etwas Zeit bleibt mir noch, aber so ein Amt sollte man nicht halten, bis einem die Schaufel auf den Kopf gehauen wird. Irgendwann sind Jüngere mit neuen Ideen dran. Als Nachfolger wünsche ich mir aber jemanden, der so vorsichtig ist wie ich.
Besuchen Sie ihn zum 30.?
Erst mit 30 ist man richtig erwachsen, sagt man. Da muss ich Ötzi natürlich gratulieren.
Interview: Cornelia Schramm