„Es wurde lange unterschätzt, wie viel Gefahr in der Szene lauert“

von Redaktion

INTERVIEW: Psychologin Pia Lamberty über die Radikalisierung von Querdenkern, ihre Motive – und die Stimmung in Telegram-Gruppen

München – Kann die Wut über eine Maskenpflicht Menschen wirklich zum Mord treiben? Pia Lamberty ist Psychologin und forscht zu Verschwörungstheorien. Sie sagt: Dass Querdenker gewalttätig werden, war absehbar. Im Interview mit unserer Zeitung erklärt sie, wie die Radikalisierung abläuft.

Frau Lamberty, nach der Tat in Idar-Oberstein wird viel über die Radikalisierung von Querdenkern gesprochen. Warum wird man vom Skeptiker zum Gewalttäter?

Man muss beachten: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man gar nicht sicher sein, aus welcher Szene der Täter kommt. Auf welchen verschwörungsideologischen Kanälen er aktiv war, ob er bei Corona-Demos protestiert hat oder sich als Querdenker bezeichnet – das wissen wir noch nicht.

Dann grundsätzlich gefragt: Wäre es für Sie eine Überraschung, dass sich Querdenker bis zur Gewaltanwendung radikalisieren?

Nein, das überrascht mich leider überhaupt nicht. Wir haben auch letztes Jahr schon gefährliche Ausschreitungen auf Corona-Demos gesehen, Angriffe auf Polizisten und Medienvertreter, und kürzlich gab es auch einen Brandanschlag auf ein Impfzentrum. Es wurde lange unterschätzt, wie viel Gefahr in dieser Szene lauert.

Passiert das im Affekt oder aus Überzeugung?

Radikalisierungsprozesse basieren auf Feindbildern. Man erschafft ein Weltbild, in dem man selbst der Gute ist, in dem man sich als Widerstandskämpfer inszeniert – und die anderen sind entweder Kollaborateure, Schlafschafe oder gleich der direkte Feind. Je mehr sich diese Feindbilder verankern, desto eher entmenschlicht man seine Feinde. So kann man Gewalt einfacher rechtfertigen. Man ist von einer großen Verschwörung überzeugt – und diejenigen, die Teil dieser Verschwörung sind, sollen ihre gerechte Strafe bekommen.

Wer gehört bei Querdenkern zu diesen Feindbildern – und warum?

Menschen aus der Politik, der Wissenschaft, den Medien, der Medizin – oder auch jemand, der die Maßnahmen einfach nur durchsetzt. Wie der Tankstellen-Mitarbeiter, der auf die Maskenpflicht hinweist.

Irgendwas muss aber dazu führen, dass man für solche Feindbilder besonders affin ist, oder?

Da gibt es unterschiedliche Beobachtungen. Bei manchen könnte es ein einfaches Persönlichkeitsmerkmal sein, eher an Verschwörungstheorien zu glauben. Aber es gibt auch Faktoren, die das befeuern können. Etwa Kontrollverlust. Das Bedürfnis, anders zu sein. Narzissmus, und der Wunsch, anderen die Welt zu erklären.

Zur Waffe zu greifen, ist aber noch einmal ein großer Schritt. Wo muss man die Grenze ziehen? Ab wann spricht man von Radikalisierung?

Es gibt leider noch wenig Forschung über die Radikalisierungsprozesse bei Querdenkern. Man müsste wissen, wo Kipp-Punkte sind. Das sind sehr individuelle Faktoren. Wichtig ist mit Sicherheit das persönliche Umfeld: Also wie stark sich die Stimmung mit Gleichdenkenden, etwa in Telegram-Gruppen (eine von Querdenkern viel genutzte Nachrichten-App), aufheizt. Ob hinter einem eine Gruppe Menschen steht, die bei Gewalttaten Rückhalt geben würde.

Querdenker werden oft als Schwurbler und Covidioten bezeichnet. Trägt das zur Abspaltung bei?

Man muss unterscheiden. Jeder sollte seine Meinung frei äußern dürfen. Aber wenn es um Hetze, Antisemitismus und Gewaltaufrufe geht, muss die Gesellschaft eine rote Linie ziehen. Man muss sich abgrenzen. Ich denke, dass man mit gesellschaftlichen Normen viel eher Kipp-Punkte der Radikalisierung verhindern kann als im Dialog. Wenn Grenzen des Miteinanders gebrochen werden, sollte die Gesellschaft auch sagen: Ab hier reden wir nicht mehr miteinander. Interview: Kathrin Braun

Artikel 3 von 3