Kabul – Die Taliban kennen ihre Namen, ein Zurück in die Heimat gibt es nicht. Seit der Machtübernahme sind Deniz Ahmadi, 30, (Name geändert), seine Frau und seine beiden Söhne auf der Flucht. Ahmadi ist einer von zehn afghanischen Fluglotsen, die zehn Jahre lang in Masar-i-Scharif für die Bundeswehr gearbeitet haben – und die Ende Juni den Flughafen offen hielten, damit die deutschen Soldaten abziehen können. Die Fluglotsen wurden zurückgelassen und sind untergetaucht, aus Furcht vor der Rache der Taliban. Regelmäßig wechselt die Familie das Versteck. Unsere Redaktion hat seit Wochen Kontakt zu Ahmadi (wir berichteten). Über einen verschlüsselten Messenger erzählt er seitdem von seinem Alltag. Eine Auswahl der von uns übersetzten Chat-Nachrichten.
„Ich habe mit einem meiner Kollegen eine Zweizimmerwohnung über einem Autoreparaturlager bei Kabul gemietet. Es ist billig und fällt nicht auf. Ich wohne in einem Einzelzimmer mit meiner Frau und den zwei Kindern. Wir haben fast einen Monat in der Hauptstadt verbracht. Dort habe ich alles ausgegeben, was ich in den letzten Jahren durch meine Arbeit mit den Deutschen gespart habe. Kabul ist teurer als Masar-i-Scharif. Zu Hause hatten wir ein normales Mittelstandsleben. Jetzt verbringen wir unsere Tage und Nächte in einem Zimmer, das nur halb abgedeckt ist (das Dach ist offenbar kaputt). Ich habe in Second-Hand-Läden Kleidungsstücke, Teppiche und Geschirr gekauft.“
„Die Taliban fragen jeden Mullah nach dem Hintergrund der Menschen, die in dem Gebiet leben. Dann kommen sie in die Häuser und belästigen, verängstigen oder töten gesuchte Menschen. Einer meiner Kollegen kam heute Abend zu uns. Er wurde letzte Nacht Zeuge, wie Taliban die Häuser in der Nachbarschaft durchsucht haben. Er hatte Angst und konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Also ist er wieder umgezogen.“
Ein paar Tage später suchen auch die Ahmadis ein neues Versteck. „Die Putzfrau sagte mir, dass morgen Leute von der neuen Regierung zur Kontrolle und Durchsuchung kommen werden. Deshalb werden wir heute Abend weiterziehen.“ „Jede Nacht hören wir Schüsse. Und die Schreie meiner Kinder. Meine Frau und meine Kinder zahlen den Preis für meinen Dienst bei der deutschen Luftwaffe.“
Wir fragen über eine verschlüsselte Messenger-App, wie es den Kindern geht, ob sie einen Fernseher haben und was im Radio läuft.
„Ich schaue oft auf Facebook nach lokalen Nachrichten. Ich könnte Radio hören, aber ich tue es nicht. Die lokalen Fernseh- und Radiosender werden zensiert. Wenn die Taliban draußen unterwegs sind, spielen sie in ihren Autos sehr laut spezielle Texte – eine Art eigene Musik ohne Instrumente. Wenn man nach draußen geht, kann man nichts sehen oder hören, was über die Scharia-Grenze hinausgeht. Erst recht keine Musik, die die Taliban als haram (nach islamischem Glauben verboten) betrachten.“
„Die Kinder haben Spielzeugautos. Einen Fernseher gibt es nicht. Sie verstehen nicht, was passiert. Aber sie haben es satt, dass sie das Zimmer nicht verlassen dürfen. Wir sind lebendig, aber wir leben nicht.“ Wir wollen wissen, was sich draußen auf der Straße erkennbar verändert hat.
„Im Grunde hat sich alles verändert. Man kann nicht mehr frei und ohne Angst nach draußen gehen. Ich bleibe immer im Zimmer und gehe nur raus, um Essen zu holen.“
„Die Taliban haben Fotos von den Menschen, die sie an den Kontrollpunkten auf der Straße ins Visier genommen haben. Sie laufen mit Gewehren herum. Immer wenn ich raus gehe, um Lebensmittel zu kaufen, bedecke ich mich so gut ich kann. Ich versuche, die Lebensmittel schnell zu besorgen und in das Zimmer zurückzukehren, das für uns wie ein Gefängnis ist.“ „Die Preise für Lebensmittel sind gestiegen und für andere Dinge wie Haus- und Autoausstattung stark gesunken.“ „Wir haben letztens für eine Mahlzeit etwa sieben Dollar gezahlt. Früher hätte das weniger als fünf gekostet. Es ist schwierig, das in Dollar umzurechnen. Vor ein paar Wochen war ein Dollar 77 Afghani wert. Jetzt 86,5 Afghani.“
Wir bitten Ahmadi um Beobachtungen, was sich für Frauen durch die Taliban geändert hat. „Meine Familie ist immer im Zimmer. Wenn man durch die Stadt geht, sieht man keine Frauen oder Mädchen, außer wenn sie ins Krankenhaus gehen. Sie dürfen keine Kleidung mehr tragen wie früher. Sie sind sie jetzt vollständig verschleiert.“ Er ergänzt: „Frauen dürfen sich nicht ohne Mahram (männliche Familienmitglieder) in der Stadt bewegen und es gibt getrennte Klassenräume für Jungen und Mädchen.“
Später schreibt Ahmadi:
„Die Taliban haben gerade bekannt gegeben, dass Jungen weiter zur Schule und zum College gehen können. Mädchen nicht.“
Wir fragen, wie die Familie Kontakt zu Freunden hält. „Ich stehe mit einigen meiner Freunde in Kontakt, kann aber nicht mit allen in Kontakt bleiben. Es gibt ein Gerücht, dass die Taliban Anrufe überwachen. Also schreiben wir nur über verschlüsselte Apps.“
Deniz Ahmadi war für die Familie Essen besorgen und berichtet:
„Alle Geschäfte in den Städten sind geschlossen, außer die Supermärkte. Die meisten Menschen, die Geld in den Banken hatten, können nicht mehr als 200 Dollar pro Woche abheben. Damit kann kein Geschäft laufen.“
Die Taliban versprechen eine friedliche Regierung. Wir fragen Ahmadi, ob er das glaubt. „Das sagen die Taliban-Führer in den Medien, aber in der Realität machen ihre Kämpfer das Gegenteil. Sie töten ehemalige Regierungsmitarbeiter, Piloten und Ortskräfte. Wir können ihnen nicht trauen.“
„Die Taliban zwingen die Menschen, sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Wenn sie also nicht in der Lage sind, die Soldaten mit Lebensmitteln zu versorgen, wie sollen sie dann die Regierung führen? Banken, Regierungsbehörden, Schulen und Hochschulen sind alle geschlossen. Lehrer und Regierungsangestellte kommen nicht zum Dienst. Die Regierung hat seit zwei Monaten keine Gehälter für Lehrer und Regierungsangestellte gezahlt. Daher haben die Menschen begonnen, ihre Hauseinrichtungen zu verkaufen, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen.“
Dass er und seine Familie nicht aus Kabul evakuiert wurden, arbeitet schwer in Deniz Ahmadi. Immer wieder schreibt er darüber.
„Vor einigen Wochen erhielten wir einen Anruf von Deutschen. Wir sollten für unsere Evakuierung zum Abby-Gate am Flughafen kommen. Man hat uns gesagt, dass eine deutsche Spezialeinheit kommen würde, um uns zum Flughafen zu bringen. Wir verbrachten dort 24 Stunden. Aber es tauchten keine Deutschen auf. Glücklicherweise verließen wir das Gate gegen 13 Uhr. Ein paar Stunden später wurde dort ein Anschlag verübt. Wir hätten alle tot sein können. Seitdem kamen keine Anrufe oder Nachrichten mehr.“ „Es ist enttäuschend, wie wir im Stich gelassen wurden.“
„Ich prüfe regelmäßig meine Mails in der Hoffnung, dass sich die deutsche Regierung meldet. Ich kann nicht mehr richtig schlafen, außerdem sind wir deprimiert, wenn wir hören, dass einige Ortskräfte – sogar Mitarbeiter des Flughafens Masar-i-Scharif – das Land zum Beispiel mit Hilfe der amerikanischen Regierung verlassen haben. Menschen, die gar nicht unmittelbar in Gefahr sind, weil sie nicht an militärischen Operationen mitgewirkt haben. Aber wir wurden zurückgelassen.“
Zum Fortschritt der Evakuierung von deutschen Ortskräften hatten wir am Montag eine Anfrage an das Bundesinnenministerium sowie an das Auswärtige Amt gestellt. Die Anfrage blieb bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe unbeantwortet.