Kabul – Die Marmortafel mit der deutschen Inschrift hängt noch an der Wache im 10. Polizeibezirk in Kabul. „Diese Polizeistation wurde mit öffentlichen Geldern der Bundesrepublik Deutschland finanziert“, steht dort. Nun sind Taliban-Kämpfer eingezogen. Sie haben die Aufgaben der Polizei übernommen, fahren mit erbeuteten Pritschenwagen Patrouille.
Eine Handvoll der Islamisten hält die Stellung an der Schranke der Zugangsstraße zu den Polizeigebäuden. Statt Uniform tragen sie landestypisches Outfit, Sandalen oder Turnschuhe. Und alle sind bewaffnet, meist mit russischen Kalaschnikows. Mohammad Abed, 22, hat ein erbeutetes amerikanisches M-16-Gewehr. „Beide töten die Menschen, die in unser Land kommen und den Islam und uns nicht akzeptieren“, sagt er. Den deutschen Reportern schlägt erst tiefes Misstrauen entgegen. Als die neuen Polizisten aber die Fotos von sich auf dem Kamera-Display sehen, schmilzt das Eis. Abed erzählt, er sei gelernter Krankenpfleger. Den Taliban habe er sich im Alter von 16 Jahren angeschlossen. Er spricht etwas Englisch und übersetzt. Einer der Taliban-Kämpfer legt mit seinem M-16-Gewehr auf den Fotografen an, als dieser ein Bild von ihm schießt. Es soll ein Scherz sein.
An der Schranke zur Polizeiwache wartet eine chaotische Menge auf Einlass. Die Menschen wollen beispielsweise Diebstähle oder Streit mit Schuldnern anzeigen, viele Fälle stammen aus der Zeit vor der Rückkehr der Taliban. Die Menschen hier beklagen, dass sie von Polizei und Justiz der alten Regierung kaum Hilfe erwarten konnten, ohne Schmiergeld zu bezahlen. Das sei jetzt anders. Die frühere Regierung war zutiefst korrupt, Afghanistan lag beim Korruptionsindex von „Transparency International“ zuletzt auf Platz 165 von 179. Den Taliban kann man viele begründete Vorwürfe machen, sie haben Terroranschläge verübt und Menschenrechte mit Füßen getreten. Korruption gehörte aber nie dazu – im Gegenteil. Die Islamisten wollen nun ein funktionierendes Staatswesen auf die Beine stellen, mit Polizei und Justiz und einer richtigen Regierung. Vordergründig geht der Alltag in Kabul weiter. Die Erinnerungen an die Schreckensherrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 sind aber nicht verblasst. Kritik üben viele daher nur hinter vorgehaltener Hand.
Organisationen wie „Human Rights Watch“ werfen den Taliban schwere Menschrechtsverletzungen vor. Frauen berichten, sie hätten vorher gearbeitet und studiert, nun dürften sie ohne männliche Begleitung nicht mehr das Haus verlassen. Die Taliban haben strikte Regeln für Kleidung und den Zugang zu Arbeit und Bildung erlassen. So müssen Frauen sich verschleiern und getrennt von Männern lernen. Viele fürchten häusliche Gewalt.
Am Mittwoch haben sich die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland und China – auf eine gemeinsame Linie gegenüber den Taliban geeinigt. Sie fordern eine Regierung, die „alle Teile der Bevölkerung präsentiert“, wie UN-Generalsekretär António Guterres sagte. Die Rechte von Frauen und Mädchen müssten respektiert werden und Afghanistan dürfe kein Zufluchtsort für Terrorismus sein. Der Übergangsregierung der Taliban gehört keine Frau an. Und Wahlen haben die Taliban nie in Aussicht gestellt. Sie dürften in Kabul auf unabsehbare Zet an der Macht bleiben. CAN MEREY, mit afp