München/Berlin – Der Machtpoker ist eröffnet. Nach dem engen Wahlergebnis liegen drei mögliche Regierungskoalitionen auf dem Tisch: Eine Ampel aus SPD, FDP und Grünen, ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen, oder eine weitere Große Koalition aus SPD und Union. Lässt man die dritte, derzeit noch sehr unwahrscheinliche Variante außer Acht, scheint klar: Grüne und FDP küren den Kanzler. Doch für beide Dreierkoalitionen müssen die Parteien zunächst große Hindernisse überwinden.
Ampel
SPD und Grüne können zwar auf viele Gemeinsamkeiten bauen, die FDP müsste aber über ihren Schatten springen. Folgende Streitpunkte sind programmiert:
Klimaschutz: Die SPD bekennt sich zu der im neuen Klimaschutzgesetz bereits verankerten Senkung der CO2-Emissionen um 65 Prozent bis 2030, die Grünen streben bis dahin 70 Prozent an. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat sich im Wahlkampf zum beschlossenen Kohleausstieg 2038 bekannt, dieses Datum ist den Grünen zu spät. Die FDP verfolgt einen anderen Ansatz: Zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes will sie den EU-Emissionshandel auf alle Sektoren ausweiten. Vor allem technologische Innovationen sollen den Klimaschutz voranbringen. Schließlich stellen sich die Liberalen auch gegen die Forderung von SPD und Grünen nach einem Tempolimit von 130 auf Autobahnen.
Steuern und Finanzen: SPD und Grüne wollen eine Entlastung bei kleinen und mittleren Einkommen, zudem treten beide Parteien für leichte Anhebungen beim Spitzensteuersatz ein. Die Liberalen lehnen Steuererhöhungen ab und wollen den Spitzensteuersatz erst ab einem höheren Betrag greifen lassen. SPD und Grüne treten für eine Vermögensteuer ein, die FDP lehnt das ab. Die Grünen wollen die Schuldenbremse durch eine „Investitionsregel“ ergänzen, die eine Erneuerung der Infrastruktur ermöglichen soll. Scholz hat sich zur Schuldenbremse bekannt, die FDP lehnt jegliche Aufweichung der im Grundgesetz festgeschriebenen Regel ab.
Sozialpolitik: SPD und Grüne treten für eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ein, die FDP teilt diese Forderung nicht. Auch eine Abkehr vom bisherigen Hartz-IV-System wollen SPD und Grüne, die FDP verfolgt mit dem „liberalen Bürgergeld“ einen anderen Ansatz. Auch vom Modell der Bürgerversicherung in Gesundheit und Pflege hält die FDP nichts. Bei der Rente wollen SPD und Grüne das gesetzliche System stärken und das Niveau auf mindestens 48 Prozent festschreiben. Ähnlich wie die FDP treten die Grünen für eine zusätzliche kapitalgedeckte Altersvorsorge ein. Den Grünen schwebt ein öffentlich verwalteter Bürgerfonds vor, den Liberalen eine gesetzliche Aktienrente.
Jamaika
Am Sonntagabend zeigte sich Robert Habeck noch recht offen für ein Bündnis mit Union und FDP. Für den Grünen-Chef, der seine Kanzlerambitionen wohl nur aufgeschoben haben dürfte, birgt das Bündnis Chancen. Die Grünen könnten sich neben FDP und Union gleichzeitig als linke Kraft profilieren und trotzdem bürgerliche Wähler an sich binden. Doch auch hier liegen noch dicke Stolpersteine im Weg.
Klimaschutz: Die Union verspricht gemäß Klimaschutzgesetz, Deutschland bis 2045 zu einem „klimaneutralen Industrieland“ umgestalten zu wollen. Dies soll „gemeinsam mit der Wirtschaft und den Sozialpartnern und ohne Überforderung der Verbraucherinnen und Verbraucher“ erfolgen. Ein Tempolimit auf Autobahnen lehnen CDU/CSU ebenso ab wie ein Enddatum für den Verbrennungsmotor. Auch am Kohleausstieg 2038 hält die Union fest. Die Grünen müssten wohl viele Kröten schlucken.
Steuern und Finanzen: Die Union will ebenfalls eine Entlastung bei kleinen und mittleren Einkommen, konkrete Zahlen werden im Wahlprogramm aber nicht genannt. Über die Schuldenbremse wird in der Union zwar diskutiert, Laschet hat sich aber zu ihr bekannt – damit stünden die Grünen auch hier gegen die anderen beiden Parteien.
Sozialpolitik: Die Union will den Mindestlohn weiter von den Tarifparteien aushandeln lassen – also wären die Grünen hier ebenfalls mit ihrer Position alleine. Auch die Union kann sich weder für grundlegende Hartz-IV-Reformen noch für die Bürgerversicherung erwärmen. CDU und CSU wollen neben der gesetzlichen, der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge eine vierte Säule einführen: die „Generationenrente“. Hier erscheint eine Einigung also möglich.
Und jetzt?
Bevor es überhaupt zu Sondierungen oder gar Koalitionsverhandlungen zu dritt kommt, suchen Grüne und FDP zunächst nach Gemeinsamkeiten. Doch den Eindruck, dass sich Liberale und Öko-Partei dann aussuchen könnten, wer – frei nach Franz Josef Strauß – unter ihnen Kanzler ist, will man weder bei der Union noch bei der SPD entstehen lassen. „Ich habe frühzeitig gesagt: Herr Lindner soll mit roten Linien vorsichtig sein“, mahnte gestern SPD-Chef Norbert Walter-Borjans in Richtung von FDP-Chef Christian Lindner. Die SPD sei sich aber bewusst, dass auch Kompromisse gemacht werden müssten. Und auch CSU-Chef Markus Söder betonte, eine Regierungsbeteiligung dürfe nicht um jeden Preis erfolgen, die CSU dürfe sich „nicht anbiedern“. Bis eine Regierung steht, dürfte es also noch ein weiter Weg sein. hor/afp