München/Berlin – Was haben sie gesungen, minutenlang, immer diese Zeile. „Armin Laschet wird Kaaanzler“, tröteten junge CSU-Aktive pausenlos, „Armin Laschet wird Kaaanzler“. Das war bei der Abschlusskundgebung der Union am Freitagnachmittag am Münchner Nockherberg, gesungene Huldigungen in Endlosschleife, vor allem zur Inszenierung für die vielen TV-Kameras. Was Münchner Schwüre taugen, ahnte Laschet vielleicht da schon. Spätestens jetzt, zweieinhalb Tage später, weiß er es.
Niemand singt mehr. Stattdessen tagt der CSU-Vorstand, Montagmorgen, und sogleich meldet sich der Vorsitzende der Sängerknaben zu Wort. Christian Doleschal, Chef der Jungen Union in Bayern, setzt zur knüppelharten Abrechnung mit Laschet an. Bei der Fehlersuche sei „als Erstes der Kandidat zu nennen“, sagt Doleschal. „Er hat jedes Fettnäpfchen mitgenommen, das es gab.“
Gestern gefeiert, heute geschmäht, so ist das in der Politik manchmal, wenn eine Wahlnacht dazwischenliegt. Doch der Stimmungswandel in der Union ist diesmal besonders krass. Als Erstes erfährt Laschet das aus der Schwesterpartei. Über Nacht sind die Werte der CSU deutlich nach unten gesackt, in den frühen Morgenstunden liegt sie in Bayern bei 31,7, ein desaströser, historischer Schrumpf-Wert. Bundesweit stieg der Vorsprung der SPD auf die Union auf 1,6 Punkte.
Umstandslos kassiert die CSU deshalb Laschets Anspruch aufs Kanzleramt. „Aus Platz zwei ergibt sich kein Anspruch für eine Regierungsbildung“, sagt Parteichef Markus Söder erst intern und dann vor den Kameras. Man könne nur ein „Angebot“ machen für eine Jamaika-Koalition. Söder zeigt, dass seine Begeisterung deutlich sinkt. „Wir dürfen uns dabei nicht anbiedern.“ Und: nicht „um jeden Preis“. Wichtig sei jetzt eine umfangreiche und präzise Fehleranalyse.
Die neue Taktik in der CSU heißt: Selbstschutz. Söder und seinen Strategen ist ein Mitregieren in Berlin eh gar nicht so wichtig. Opposition zu sein in der Hauptstadt, würde den Landtagswahlkampf 2023 – für die CSU das Wichtigste – erleichtern. Zumal Laschet und seine CDU wohl einen inhaltlich und personell sehr hohen Preis zahlen müssten, um FDP und Grüne in eine Regierung jenseits der Ampel zu locken. Das Unions-Profil, unter Merkel schon erblasst, droht weiter verwischt zu werden. Laschet würde, so glauben sie in der CSU, für eine Regierungsbildung jede Position räumen. Für ihn gehe es persönlich um alles oder nichts: Kommt die Union nicht in die Regierung, wird er als Hinterbänkler im Bundestag enden, den Rückweg nach NRW hat er sich selbst verbaut. Dort ist 2022 Neuwahl, sein Erbe wird bereits verteilt.
Der CSU kommt ein Prügelknabe gerade recht. Es gärt auch an ihrer Basis wegen des Absturzes auf knapp über 30 Prozent. Corona-Politik, Ergrünung, Schlingerkurs, One-Man-Show – Stichworte für Vorwürfe an Söder. Der Parteivorsitzende hat deshalb nichts dagegen, dass sein Vorstand plötzlich Laschet ins Visier nimmt.
In einer Reihe von Wortmeldungen passiert das am Montag, berichten Teilnehmer. Landesgruppenchef Alexander Dobrindt zerpflückt „Schwächen bei Kurs, Kampagne, Kandidat“. Die „unnötigste Niederlage überhaupt“ nennt er das Wahlergebnis. Ilse Aigner, Chefin der Oberbayern-CSU, wirft der Schwesterpartei vor, ihr fehlten „zündende Ideen“ und Kampfstärke. Dass Aigner auch in der CSU einen Wiederaufbau der Debattenkultur fordert, geht fast unter, denn die Debatte weist an diesem Tag Richtung Norden. Albert Füracker, Finanzminister und Söder-Intimus, wirft Laschet vor, „ein größeres Desaster“ als sein schlechtes CDU-Ergebnis im Heimatland NRW gebe es in kaum einem anderen Land.
Füracker und mehrere Redner beteuern, mit einem Kanzlerkandidaten Söder hätte man in Bayern 40 plus x geschafft. Mehrere wichtige Christsoziale stellen Laschets Kanzler-Ambitionen infrage. „Ob die CDU mit dem Ergebnis den Anspruch erheben kann, den Kanzler zu stellen, da bin ich skeptisch“, sagt sogar Barbara Stamm, einstige Partei-Vizechefin. Der Erdinger Abgeordnete Andreas Lenz beschimpft die Union als „in Teilen hirntot“.
Es dauert nur Minuten, bis solche Sätze Wort für Wort bei der CDU ankommen. Zeitgleich tagt ja Laschet mit seinem Parteivorstand in Berlin. Auch der CDU-Chef ist defensiver geworden, als über Nacht die hässliche Zahl von 24,1 Prozent eintraf (2017 hatte die Union noch 32,9). Er redet selbst nicht mehr vom „Anspruch“ aufs Kanzleramt, sondern von einem Angebot. Die Härte der Attacken aus Bayern dürfte ihn aber überraschen. Söder kritisiert indirekt auch, dass Laschet bereits mit FDP-Chef Christian Lindner telefonierte und ein Gespräch mit der Grünen Annalena Baerbock ankündigte. „Die Gespräche führt nicht einer“, sagt Söder vor Journalisten, „das kann gar nicht sein“. Er hoffe, dass man miteinander rede, statt „Einzelgespräche“ zu führen.
Um Laschets Beinfreiheit weiter einzuengen, zieht er drei rote Linien. Die CSU müsse in Jamaika das „soziale Gewissen“ sein bei Rente, Pflege, Wohnungsbau. Sie müsse für innere Sicherheit und den ländlichen Raum stehen und stehe klar gegen jede Steuererhöhung und gegen ein Ausschalten der Schuldenbremse. Was bleibt da noch übrig an Verhandlungsmasse?
Laschet bekommt aus seiner eigenen CDU gemischte Signale. Der schnelle Sturz, der bei einem Ergebnis vier, fünf Punkte hinter der SPD kaum vermeidlich gewesen wäre, bleibt aus. Einzelne Parteifreunde zählen ihn aber an. Von „Fehlentscheidungen inhaltlicher Art, in der Regierung und auch in der personellen Aufstellung“ spricht Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer: „Die CDU hat diese Wahl verloren.“ Präsidiumsmitglied Norbert Röttgen nennt Laschets Wahlkampf „oberflächlich“. Die Mittelstandsunion verlangt, nie wieder einen Parteichef ohne Mitgliederentscheid zu küren. Ellen Demuth, aufstrebende Landtagsabgeordnete aus Rheinland-Pfalz, fordert offen seinen Rücktritt: „Sie haben verloren. Ich wünschte, es gäbe eine Selbsterkenntnis.“
Das ist hart, wenn auch noch nicht die Total-Abrechnung im CDU-Vorstand. In der Runde erinnern sich viele ja auch, dass sie Laschet zum Kandidaten machten. Auch Ex-Rivale Friedrich Merz stellt sich hinter ihn. Laschet räumt intern dafür persönliche Fehler im Wahlkampf ein, auch organisatorische.
Die kommenden Tage wird die Union brauchen, um sich zu sortieren. Die erste Machtprobe hat Laschet schon verloren. Anders als von ihm gewünscht will die Union sofort einen Fraktionschef wählen, nicht kommissarisch und auch nicht ihn. Amtsinhaber Ralph Brinkhaus bewirbt sich heute am späten Nachmittag dafür. Offen ist, ob er Gegenkandidaten bekommt, Jens Spahn, Friedrich Merz oder Röttgen werden gehandelt.
Noch mal zurückdenken an die Gesänge. „Armin Laschet wird Kaaanzler“, schallte ihm in München entgegen. Am Montag wird Söder gefragt, ob auch Jamaika mit einem ganz anderen Kanzler denkbar sei. Er weicht aus, sagt einen Satz in der Vergangenheitsform: „Armin Laschet war der Kanzlerkandidat.“