Wann erreicht Bayern den Wendepunkt?

von Redaktion

VON WOLFGANG HAUSKRECHT

München – Die letzten Wochen waren hart. Immer neue Höchststände bei den Neuinfektionen, nun auch noch die Omikron-Variante. Aber es gibt ausnahmsweise auch etwas Positives zu vermelden. In Bayern zeigen die neuen Beschränkungen offenbar Wirkung. Seit einigen Tagen stagnieren die Inzidenzen im Freistaat oder gehen in manchen Regionen sogar zurück.

Das Landesamt für Gesundheit gab gestern die Werte für die vergangene Woche bekannt. Demnach sanken die Zahlen bei den Zwölf- bis 19-Jährigen leicht, bei den Sechs- bis Elfjährigen stiegen sie etwas auf 1290. Unter dem Strich steht ein leichter Rückgang. Der Trend zeigt sich auch bei der bayernweiten Inzidenz. Sie sank gestern laut Robert-Koch-Institut auf 627,6 – vor einer Woche hatte sie bei 640 gelegen. Die höchste Inzidenz im Freistaat hat mit 1373 weiter der Kreis Freyung-Grafenau (Kasten).

Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sieht die stagnierenden Corona-Inzidenzen auch als Folge der verschärften Regeln im Freistaat. „Wenn Sie heute die Inzidenz sehen, dann sehen Sie, dass sie in Deutschland steigt und in Bayern leicht sinkt. Und das ist ein Trend, der sich seit einigen Tagen ergibt“, sagte er am Montag im ZDF.

Sind wir in Bayern also schon bald über den Berg?

Helmut Küchenhoff ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München. Sein Statistik-Institut wertet laufend die Pandemie-Zahlen aus. Küchenhoff bestätigt: „In Bayern gibt es bei der Zahl der Neuinfektionen aktuell eine Stabilisierung bis hin zu einem leichten Abwärtstrend. In unseren Analysen sehen wir auch einen leichten Rückgang bei den Neuaufnahmen in Bayerns Kliniken – allerdings noch nicht auf den Intensivstationen. Hier kann es noch eine Woche dauern.“ Die Stagnation mache Hoffnung, voreilige Schlüsse dürfe man daraus aber nicht ziehen. „Ob das schon der Wendepunkt der Pandemie ist, kann niemand sagen – und die These, wir sind durch, kann man nicht aufstellen. Das ist alles andere als sicher“, sagt der Experte. „In Bayern sind wir nach wie vor in einer kritischen Situation. Wir brauchen einen Rückgang über einen längeren Zeitraum, weil die Werte so hoch sind.“

Auch Dr. Christoph Spinner, Infektiologe und Pandemiebeauftragter am Klinikum rechts der Isar, warnt. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sei noch immer hoch, eine Entspannung in den Kliniken zeichne sich noch nicht ab. Dass der Höhepunkt der vierten Welle erreicht ist, glaubt Spinner nicht. „Die in Deutschland steigenden Infektionszahlen zeigen das Gegenteil. Modellierungen zufolge ist der Höchststand frühestens im Dezember zu erwarten.“

Söder forderte gestern für ganz Deutschland die gleichen strengen Regeln wie in Bayern. Auch der Virologe Christian Drosten wies auf die Bayern-Werte hin und riet der Politik, genau auf die scharfen Regeln in den Hotspots Sachsen, Bayern und Österreich zu achten. Hier sehe man schon erste Effekte. Der R-Wert, der angibt, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, liegt in Bayern nur noch bei 0,88. Allerdings ist auch das noch keine Entwarnung. Laut Drosten sorgt erst ein R-Wert von 0,7 für nachhaltige Entspannung auf den Intensivstationen.

Andere gehen noch weiter: Die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci zum Beispiel fordert, das öffentliche Leben mit bundesweiten Regeln wieder auf ein Minimum zu reduzieren – auch für Geimpfte. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, warnt vor harten Triage-Entscheidungen in Krankenhäusern, ein harter Lockdown sei nun „zwingend erforderlich“. Auch der Vizepräsident der Wissenschaftsakademie Leopoldina, Prof. Dr. Robert Schlögl, fordert, Kontakte drastisch zu reduzieren – und zwar für alle.

LMU-Experte Küchenhoff sieht das ganz anders. „Nein, das wäre nicht vernünftig. Es gibt in den Bundesländern deutliche Unterschiede.“ In Hamburg zum Beispiel sei die Hospitalisierung um den Faktor 2,5 niedriger als in Bayern. „Außerdem wissen wir über die Wirkung von Maßnahmen nur wenig. Sehr viel hängt auch an der Bevölkerung – und Menschen in Sachsen reagieren vielleicht anders auf eine Maßnahme als die Menschen in Bayern. Deshalb finde ich es richtig, regional zu entscheiden.“

Auch Bayern, so Küchenhoff weiter, brauche angesichts der Stagnation keine neuen Maßnahmen. „In Anbetracht der Lage fände ich es vernünftig, erst einmal abzuwarten. Es gibt in Bayern ja schon starke Einschränkungen.“ Entscheidend sei, die Impfkampagne voranzutreiben und zu boostern. „Im Idealfall ruft man beim Hausarzt an und hat zwei Stunden später einen Termin.“

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