Die Station zwischen Leben und Tod

von Redaktion

VON HELENA GRILLENBERGER

Ebersberg – Es ist still auf der Intensivstation der Ebersberger Kreisklinik. Ein einsames Piepsen durchdringt die Ruhe. Vor dem „Stützpunkt“ der Station, wo die Pfleger auf Computerbildschirmen die Herz- und Kreislaufkurven der Patienten überwachen, steht ein schulterhoher Christbaum, geschmückt mit silber- und lilafarbenen Kugeln und mit Geschenken darunter. Direkt daneben stehen fünf Sauerstoffflaschen, für die Beatmungspatienten. Willkommen im Corona-Advent 2021. Der Kampf um Leben und Tod geht weiter.

Etwa ein halbes Dutzend Pfleger in blauen Kitteln geht schweigend seiner Arbeit hinter den dünnen Glasscheiben nach. Durch das Fenster sieht man gelegentlich ein graues Haarbüschel zwischen Decke und Kopfkissen der Intensivbetten hervorblitzen. Ein nacktes Bein, das unter der Decke verschwindet.

Die Gänge der Intensivstation sind menschenleer, bis auf die vermummten Gestalten, die gelegentlich aus den verschiedenen Räumen hinter den Glasscheiben kommen und sich aus ihrer Schutzkleidung schälen.

Ein immer gleiches Prozedere, das Ärzte und Pfleger nach jedem Gang in eines der „Patientenzimmer“, die eigentlich Boxen heißen, durchlaufen müssen: Einweghandschuhe, Kittel und Haube ausziehen und wegwerfen, ohne dabei die eigene Kleidung zu kontaminieren – Schutzbrille desinfizieren und zum Trocknen aufhängen.

Das Virus darf nicht von einem Patienten zum anderen verschleppt werden, erklärt Dr. Peter Lemberger, Chefarzt der Anästhesie und Intensivmedizin, der außerdem Pandemie-Beauftragter der Kreisklinik Ebersberg ist. Rund 30 Mal am Tag muss sich eine Pflegekraft deshalb umziehen. Und das, obwohl sie in der Regel nur für ein Zimmer, also zwei Patienten, zuständig ist. Dabei fordert das Ausziehen die gleiche Konzentration wie der Kontakt mit den Patienten selbst, erklärt Lemberger. Gerade für den Selbstschutz sei das essenziell: Dass die Außenseite der Schutzkleidung nicht an die eigenen Klamotten kommt, „das erfordert schon Übung“, sagt er. Das ist aber nicht die einzige Herausforderung, vor die die Schutzkleidung das Personal stellt: „Manche schauen da wirklich eindrucksvoll aus“, sagt Richard Haslbeck, Bereichsleiter der Intensivpflege. Nach einer Stunde unter dem dünnen Schutzkittel komme so manch ein Kollege schweißgebadet aus der Box. „Die tropfen richtig“, sagt Haslbeck.

Neun Corona-Patienten liegen momentan auf der Intensivstation in Ebersberg, alle werden beatmet. Neun Menschen, die in den Intensivbetten liegen, manche auf dem Rücken, manche auf dem Bauch. Nur zwei dieser Patienten sind geimpft. Ein Gewirr aus Kabeln und Schläuchen, mit Pflastern an ihren Gesichtern befestigt, laufen in einer Maschine neben dem Bett zusammen. Auch für medizinische Laien erkennbar ist der Beatmungsschlauch, der vom Patienten weg zum Kopfende des Bettes führt. Daneben zwei Pfleger in voller Schutzausrüstung, die schweigend ihrer Arbeit nachgehen. Nur eine dünne Scheibe trennt den stillen Kampf um Leben und Tod in der Box vom schutzausrüstungslosen Alltag außerhalb.

Die Beatmung dauert meistens mehrere Wochen, sagt Lemberger. „Manche sterben nach drei Tagen, bei anderen glaubt man nicht mehr, dass sie es schaffen, und nach zwei Wochen wachen sie wieder auf.“ In der Regel könne man bei der Beatmung aber von vier bis sechs Wochen ausgehen. Vier bis sechs Wochen, in denen die Patienten nicht nur medizinisch versorgt, sondern auch gepflegt werden müssen.

Und zur Pflege der bewusstlosen Patienten gehört nicht nur das äußerliche Reinigen: In einem der Patientenzimmer stehen zwei Pfleger in voller Schutzmontur: mit Brille, blauen Einweghandschuhen, gelbem Kittel und grüner Haube. Einer der beiden hält mit beiden Händen den Kopf des Patienten und hebt ihn leicht an, der andere putzt ihm, am Beatmungsschlauch vorbei, die Zähne. Aller Anstrengung der letzten eineinhalb Jahre zum Trotz sorgfältig und geduldig. Aber auch routiniert – weil es längst Alltag ist.

Die Pflegekräfte sind mittlerweile vertraut mit der Behandlung von isolierten Patienten, sagt Lemberger. „Aber es ist immer noch sehr belastend“, fügt er hinzu. „Es herrscht schon eine gedrückte Stimmung.“ Die merkt man auch beim Wandern durch die Gänge. Gespräche werden leise geführt – ein Kugelschreiber, der versehentlich vom Schreibtisch fällt, schlägt laut auf dem Boden auf und zerreißt die Stille.

„Mit jedem Patienten, der dazukommt, wird’s für das Personal noch anstrengender“, sagt Haslbeck. Mit zwei Isolationsfällen „wär’ man schon gut ausgelastet“, erklärt er weiter. „20 könnte man betreiben, dann wird’s für das Personal aber brutal.“ Sowohl psychisch als auch physisch gehe momentan jeder an seine Grenzen, sagt der Pandemie-Beauftragte der Klinik.

Dem Mehraufwand an Arbeit und auch Zeit, beispielsweise durch das häufige Umziehen, werde aber versucht gegenzusteuern. Pro Schicht gibt es ein Stammteam von sechs bis sieben Leuten, wie viele am Ende tatsächlich auf der Station sind, „ist schwer zu sagen“, so Haslbeck. Denn zur Unterstützung wird Personal aus anderen Abteilungen auf der Intensivstation eingesetzt, die Zahl der zusätzlichen Kräfte schwanke. Zwar können die Fachkräfte aus den anderen Abteilungen keinen eigenen Patienten übernehmen, aber zumindest mithelfen und das Personal der Intensivstation entlasten. „Es werden aber momentan Grenzen ausgeweitet, die wir unter normalen Bedingungen längst überschritten hätten“, sagt Lemberger.

Die Covid-Patienten binden auch in der Ebersberger Kreisklinik einen großen Teil der Kapazitäten – zuletzt hatte das Landratsamt gewarnt, dass Patientenverlegungen drohen, da etwa Unfallopfern oder Herzinfarktpatienten nach einer Erstversorgung möglicherweise kein Intensivbett zur Verfügung stehe. Ein Covid-19-Intensivpatient wurde wegen Überlastung bereits in eine Hamburger Klinik verlegt. Am ersten Adventswochenende starben in der Kreisklinik fünf Menschen an Corona, Geburtsjahrgänge zwischen 1933 und 1954. In der vergangenen Woche folgten weitere Todesfälle, einer am Wochenende. Es sind dramatische Zeiten.

Auch beim Verlassen der Intensivstation fällt der Blick auf die Sauerstoffflaschen neben dem Christbaum. „Momentan hat nicht alles da Platz, wo es hingehört“, sagt Chefarzt Lemberger. „Da stehen die Sachen manchmal an ungewöhnlichen Orten.“

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