Der Machtwechsel

von Redaktion

Eine Kanzlerin geht, ein Kanzler kommt: Die letzten sechs Stunden der Ära Merkel im Protokoll

9.00 Uhr: Der erste Applaus der neuen Ära gehört noch einmal der alten Kanzlerin. Der Bundestag erhebt sich für Angela Merkel – allein die AfD bleibt auf ihren Stühlen sitzen. Die 67-Jährige erträgt die Ovationen nahezu stoisch. Die Hände erst noch zur obligatorischen Raute gefaltet, steht sie kurz auf, nickt, ringt sich dann noch zu einem kurzen Winken durch.

Merkel, die keine Bundestagsabgeordnete mehr ist, darf den Plenarsaal nicht betreten. Sie hat auf der Ehrentribüne neben dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck Platz genommen. Auch eine Übergabe im Parlament an ihren Nachfolger gibt es nicht. 16 Jahre Kanzlerin, eine Minute Beifall – das war‘s.

9.02 Uhr: Die Kanzlerwahl beginnt. Die neue Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) schlägt Olaf Scholz (SPD) vor – den Mann, der den Wahlkampf auf den Kopf gestellt hat und sich am Ende gegen Armin Laschet (CDU), Annalena Baerbock (Grüne) und nahezu sämtliche Erwartungen durchgesetzt hat. Eine überraschende Erfolgsgeschichte, die eigentlich Raum für große Emotionen bietet. Doch: Merkel, Scholz, Maskenpflicht – wer große Gefühle und rührende Bilder sucht, ist hier und heute falsch. Auch der neue Kanzler – einst womöglich nicht ganz ohne Grund Scholzomat genannt – neigt nicht zu Ausbrüchen.

9.06 Uhr: Volles Haus im Parlament – nur die Regierungsbank ist leer, denn Kanzler und Minister gibt es ja noch nicht. Bundestagspräsidentin Bas erklärt den Ablauf der Wahl. Danach werden die 736 Namen der Abgeordneten zur Abstimmung aufgerufen. Scholz braucht 369 Stimmen – die sogenannte Kanzlermehrheit. SPD, Grüne und FDP haben gemeinsam 416 Stimmen. Große Angst muss er also nicht haben.

10.16 Uhr: Es ist ausgezählt. 707 Stimmen wurden abgegeben. 395 für Scholz, 303 gegen ihn. Ob ihn Ampel-Abgeordnete nicht gewählt haben, ist zunächst noch unklar – offenbar fehlen einige auch krankheitsbedingt. So oder so: Scholz ist damit durch – zumindest, was die Kanzlerwahl betrifft. Denn nachdem er die Wahl angenommen hat, wird er mit imposanten Blumensträußen überhäuft. Fast jede Fraktion drückt dem neuen Kanzler beim Gratulieren einen in die Hand – auch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ist präpariert, sein Strauß ist stilecht in Bayerns Farben weiß und (lila)blau gehaucht. Nur die AfD kennt offenbar Erbarmen – Fraktionschefin Alice Weidel kommt ohne Blumen. Danach schüttelt Scholz noch unzählige Hände, klopft auf Fäuste und lässt sich fotografieren.

10.41 Uhr: Scholz steigt am Schloss Bellevue aus seiner schwarzen Limousine. Jetzt ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dran. Nach Artikel 63 des Grundgesetzes muss er den Bundeskanzler ernennen. Steinmeier und Scholz kennen sich lange. Vom damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder wurden sie Anfang des Jahrtausends beide nach Berlin geholt. Später saßen sie gemeinsam im ersten GroKo-Kabinett von Angela Merkel – Scholz als Arbeitsminister, Steinmeier als Außenminister. Im Großen Saal des Schlosses stehen die beiden Weggefährten nun 20 Minuten nach Scholz’ Ankunft nebeneinander. Ein Satz, ein Glückwunsch, Scholz hält die Ernennungsurkunde in die Kameras. Und weg sind sie wieder.

12.00 Uhr: Zurück im Bundestag nimmt Scholz auf der Regierungsbank Platz – vorerst alleine, da es ja immer noch keine ernannten Minister gibt. Lange bleibt er nicht sitzen, denn nun muss er vortreten, um seinen Eid auf die Urschrift des Grundgesetzes zu leisten. „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde“, sagt Scholz. Den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ lässt er weg. Der 63-Jährige ist schon vor Jahren aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Nach dem Eid stehen wieder Abgeordnete Schlange, um zu gratulieren und sich mit dem neuen Regierungschef knipsen zu lasen. Wer weiß schließlich, wann wieder ein neuer Kanzler gewählt wird – das letzte Mal hat’s 16 Jahre gedauert. Scholz – dem nachgesagt wird, sich Namen schwer merken zu können – wirkt beinahe verlegen. Dabei geht hier ein Kindheitstraum in Erfüllung. „Er hat mir schon mit zwölf gesagt, dass er Bundeskanzler werden will“, hat Vater Gerhard Scholz der „Bild“ verraten. Er sitzt heute auch auf der Tribüne.

12.23 Uhr: Wieder geht’s zurück zum Schloss Bellevue – doch diesmal hat Scholz sein Kabinett im Schlepptau. 16 Limousinen und ein E-Bike rollen an. Der neue Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sieht keinen Grund, für zwei Kilometer ins Auto zu steigen – und ist mit dem Rad schneller als einige seiner Kollegen. Wie die versammelten Minister und Ministerinnen dann kurz darauf im Saal stehen, hat etwas von einer Zeugnisverleihung. Einzeln werden sie aufgerufen und erhalten von Steinmeier ihre Urkunden. Der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) trägt als einziger Mann keine Krawatte. Die aus Bayern stammende Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) ist nicht dabei. Sie trägt zwar die Ministerin im Namen, ist aber kein offizielles Kabinettsmitglied.

12.45 Uhr: Nun spricht der Bundespräsident zum Ampel-Kabinett. „Sie tragen jetzt die Verantwortung für unser Land und für 82 Millionen Menschen“, schärft er der neuen Regierung ein – und fordert entschlossenes Handeln in der Corona-Krise. „In der akuten Notlage kommt es darauf an, nicht auf die Lautesten zu hören, sondern dafür zu sorgen, dass uns die Pandemie nicht ein weiteres Jahr fest im Griff hält und öffentliches Leben wieder selbstverständlich werden kann.“ Dann wendet sich Steinmeier an die Bevölkerung. „Gerade in dieser angespannten Lage sollten gute Argumente sprechen, nicht Verachtung, nicht Wut, schon gar nicht Hass“, sagt der Präsident. „Wir wollen uns auch nach der Krise noch in die Augen schauen können.“ Nach Steinmeiers staatstragender Rede stellt sich Scholz‘ Regierungsmannschaft zum offiziellen Gruppenfoto auf. 13.29 Uhr: 16 Limousinen und ein E-Bike kommen nach und nach wieder am Reichstagsgebäude an.

13.39 Uhr: Bas verliest die neuen Minister einzeln. Der Bundestag klatscht. Außenministerin Annalena Baerbock und Arbeitsminister Hubertus Heil sind die Applauskönige der Ampel-Koalition. Danach schwört auch das Kabinett den Eid auf das Grundgesetz. Die fünf Grünen-Minister sowie Svenja Schulze und Wolfgang Schmidt (beide SPD) ohne Gottesformel, der Rest mit. Damit ist die Bundesregierung komplett. Es werden Hände geschüttelt. Es gibt innige Umarmungen. Vergessen ist die Pandemie.

15.00 Uhr: Bei der Amtsübergabe im Bundeskanzleramt herrscht fast schon freundschaftliche Stimmung. „Nehmen Sie dieses Haus in Besitz“, sagt Angela Merkel zu Olaf Scholz. Dann gibt es wieder Blumen. Zunächst von Scholz für Merkel, dann vom Personalratsvorsitzenden für Scholz und Merkel. Der Mann in Uniform heißt den neuen Chef willkommen und verabschiedet die scheidende Chefin. Der Wechsel finde in besonderen Zeiten statt, sagt der Vertreter der Belegschaft. Doch – Finanzkrise, Flüchtlinge, Afghanistan – wann sei das hier schon anders gewesen? „Wir hätten uns durchaus mal ein ruhiges Jahr gewünscht“, sagt er. Für Merkel hingegen war es „eine der schönsten Aufgaben, die es gibt“. SEBASTIAN HORSCH

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