„Es gab zeitweise 100 000 Mitglieder in Naturheilvereinen“

von Redaktion

INTERVIEW Ein Experte spricht über die Geschichte der Impfstoffe und die Rolle der Impfskeptiker in Deutschland

Impfungen gibt es in Deutschland schon seit über 200 Jahren. Professor Dr. Eberhard Wolff ist Dozent am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Ein Gespräch über Anti-Impf-Vereine und über bahnbrechende Vakzine.

Welche Impfungen waren für Deutschland neben der Pockenschutzimpfung besonders wichtig?

Im späten 19. Jahrhundert wurde die Diphterie-Impfung eingeführt. Emil von Behring hat sie entwickelt. Diphterie ist eine bakterielle Entzündung des Hals- und Rachenraums, auch „Würgeengel der Kinder“ genannt. Im 19. Jahrhundert starben daran in Deutschland jährlich rund 50 000 Kinder. In den 1950er- Jahren kam der Schutz gegen Polio, die Kinderlähmung. Auch Erwachsene können daran erkranken. Arm- und Beinmuskulatur sind gelähmt, manchmal dauerhaft. Erkrankte können auch sterben, falls die Atemmuskeln betroffen sind. Die Wirkung der Polio-Impfung war besonders sichtbar. Die Infektionszahlen gingen stark zurück. Bis heute wird sie als Beispiel genommen, wenn man die positiven Auswirkungen von Impfungen darstellen will. Diese Impfung ist von der Gesellschaft breit akzeptiert worden. Zum einen weil die Krankheit sehr präsent war, zum anderen weil sie auch Kinder stark bedroht hat.

Bei anderen Impfungen gab es mehr Widerstand.

Ich glaube, dass die Pocken-Schutzimpfung am heftigsten diskutiert wurde. Auch, weil der Staat eine Impfpflicht einführte. Auch die HPV-Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs ist vor zehn bis 15 Jahren kontrovers diskutiert worden. Vor allem auf feministischer Seite gab es Skepsis. Es wurde kritisiert, dass die Pharmaindustrie mit dieser Impfung ein großes Geschäft wittere und das Vakzin deshalb so offensiv beworben werde. Impfung kann man als eine Art Maßstab für Systemvertrauen sehen. Anhand der Akzeptanz lässt sich einschätzen, wie groß das Vertrauen der Bevölkerung in Medizin und staatliche Gesundheitspolitik ist.

Was hat es mit Anti-Impf-Vereinen im 19. Jahrhundert auf sich?

Impfungen waren zu dieser Zeit ein großes Streitthema. Als in Deutschland ab den 1860er-Jahren das Vereinswesen aufblühte, wurden Kampagnen dagegen entwickelt. Da gab es zeitweise 100 000 Mitglieder in Naturheilvereinen mit alternativen Auffassungen von Gesundheit. Der Schulmedizin war das ein Dorn im Auge.

Es gab aber auch Impf-Fehlschläge.

Viele Impfungen in der Geschichte waren erfolgreich. Aber das verleitet häufig dazu zu übersehen, dass diese Erfolge mit vielen Rückschlägen und Nebenwirkungen verbunden waren. Bei der Tuberkulose-Impfung gab es 1930 das Impf-Unglück von Lübeck. Dabei wurde Neugeborenen kontaminierter BCG-Impfstoff verabreicht. 77 Kinder infizierten sich mit Tuberkulose und starben. Danach wurde viele Jahre sehr wenig gegen die Krankheit geimpft, erst in der Nachkriegszeit wieder mehr.

Früher wurden Menschen mit einem Vakzin aus Kuhpocken geimpft. Deshalb glaubten viele, dass sie danach wie Kühe aussehen.

Die Vorstellung, dass bestimmte Charaktermerkmale von Tieren durch die Impfung übertragen werden, kam aus akademischen und medizinischen Kreisen im späten 18. Jahrhundert. Das war kein dummer Volksglaube, sondern zu dieser Zeit eine relativ akzeptierte Vorstellung. Genauso wie die Furcht, dass schwangere Frauen ein behindertes Kind auf die Welt bringen, wenn sie sich erschrecken.

Interview: Alexandra Schöne

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