München/Bruck – Über Andreas Schuler aus Bauhof, einem Weiler der Gemeinde Bruck im Landkreis Ebersberg, ist eigentlich wenig bekannt. Er kam im Jahr 1826 zur Welt, wahrscheinlich wurde aus ihm ein stattlicher Bauernbub. Gegen eine damals weit verbreitete Geißel der Menschheit jedenfalls war Andreas Schuler geschützt: die Pocken. Im Alter von einem Jahr bekam er eine Impfung verpasst, die acht Tage später vom Landgerichtsarzt im königlichen Baierischen Gerichts-Bezirk Ebersberg als „ächt“ bestätigt wurde.
Die Pocken – auch Blattern genannt – wüteten seit jeher in Europa. Im 18. Jahrhundert sollen ihr jährlich 400 000 Menschen zum Opfer gefallen sein. Auch Genies wie Mozart oder Goethe hatten mit den tückischen Eiterpusteln zu kämpfen – sie sollen nur knapp überlebt haben. Die Erkrankten bekamen Fieberanfälle, Ausschlag in Mund und Rachen, selbst die Netzhaut der Augen wurde befallen. Wer überlebte, war häufig blind und von Narben entstellt. Fast jedes Kind wurde von der Viruserkrankung befallen, jedes zehnte soll daran gestorben sein.
Andreas Schuler aus Bruck hatte Glück, dass 30 Jahre davor der medizinische Durchbruch gegen die Plage gefunden worden war. Ein Arzt in England namens Edward Jenner entdeckte 1796, dass in der Landwirtschaft damals verbreitete Kuhpocken, die die Euter der Rindviecher befielen, für Menschen harmlos waren. Aber wer sich einmal infiziert hatte, der war auch gegen die richtigen Pocken immun. Jenner infizierte mit schlechtem Gewissen den Sohn seines Gärtners zuerst mit den Kuhpocken, dann mit dem bösartigen Pockenerreger – und siehe da, der Bub blieb gesund. Jenners Forschungen wurden in Fachzeitschriften publiziert und gelangten so auch nach Bayern.
Damals war Bayern, seit 1805 zum Königreich erhoben und von König Max I. Joseph meist klug regiert, ein Land der Aufklärung. Max hatte aber auch den genialen Maximilian von Montgelas als Außen- und Innenminister an seiner Seite. Montgelas war ein Verfechter der Aufklärung, er setzte die Säkularisation durch, die ihm die Kirche noch heute nicht verzeiht, er führte eine Reform der öffentlichen Verwaltung durch und hätte am liebsten auch die Privilegien des Adels radikal gestrichen. Ein Reformer durch und durch – und in diesem Geist war es möglich, dass Bayern als erster Staat Europas die Impfpflicht gegen die Pocken verfügte. Das war am 26. August 1807. Bei den Wittelsbachern war damals vielleicht noch in Erinnerung, dass die Geißel auch Adelshäuser nicht verschonte – Kurfürst Maximilian III. Joseph war 1777 durch die Pocken hinweggerafft worden.
Sage keiner, die Leute wären von der Impfpflicht damals samt und sonders begeistert gewesen. Die Geschichte der Pocken-Impfung – und des Widerstands dagegen – ist vielleicht ein Parallelfall zur jetzigen Geißel, dem Coronavirus. Daten über die Durchsetzung der Pocken-Impfungen liegen nicht vor. Doch ein Blick nach Tirol zeigt, dass der Pocken-Schutz nicht überall gut ankam. Tirol war 1806 von Österreich-Habsburg an Bayern abgetreten worden – und die bayerischen Aufklärer stürzten sich auf das tiefgläubige Bergvolk. Schon im August 1807 setzten auch dort die Impfungen gegen die Kuhpocken an. Das kam nicht gut an. „Unter anderem ging das Gerücht um, dass den Leuten der Protestantismus eingeimpft werde“, schreibt der Tiroler Historiker Meinrad Pizzinini in einer Andreas-Hofer-Biografie.
Manche Historiker schreiben, die Tiroler Aufstände am Berg Isel bei Innsbruck 1809 seien eigentlich eine Art Anti-Impf-Aufstand. Das ist zwar übertrieben – die Tiroler ärgerten sich über viele Maßnahmen der bayerischen Autorität, die sich ihrerseits über die Tiroler Hinterwäldler echauffierten und sogar die Christmette am liebsten abgeschafft hätten. Wahr ist aber, dass Tirol eines der frühesten Beispiele für massiven Impfwiderstand liefert.
Weitere sollten folgen. Anstatt sich an Bayern ein Vorbild zu nehmen, zögerten selbst viele deutsche Staaten die Entscheidung lieber hinaus. Den Schlusspunkt setzte 1874 der Reichstag im drei Jahre zuvor gegründeten neuen deutschen Kaiserreich: Die Regierung Bismarck brachte dort einen „Gesetzentwurf über den Impfzwang“ ein, der in fünf Sitzungen kontrovers diskutiert wurde, ehe das Reichsimpfgesetz am 9. März 1874 förmlich beschlossen wurde. Seitdem mussten Eltern deutschlandweit ihre Kinder gegen Pocken impfen lassen. Wer gegen das Gesetz verstieß, dem drohte eine Geldstrafe oder sogar Haft.
Dagegen begehrten fortan nur noch hartnäckige Impfgegner auf. Fanatiker gab es auch damals schon. Die Impfgegner schlossen sich in einem „Reichsverband zur Bekämpfung der Impfung“ zusammen, letztlich ein sektiererischer Verein, der aber über Jahrzehnte eine eigene Zeitschrift gegen den „Impfzwang“ herausgab. Die Fragen, die dabei aufgeworfen wurden, sind fast dieselben wie heute: Hat das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper Vorrang? Oder dürfe „im Interesse der Allgemeinheit“ dem Einzelnen „eine Unannehmlichkeit“ auferlegt werden, wie es ein führender Hygieniker in den 1920er-Jahren formulierte?
Die Pocken-Impfpflicht blieb bestehen. Erstaunlich: Es dauerte bis 1976, ehe die Krankheit als ausgestorben galt. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation den Sieg über die Seuche, 1983 wurde die Impfpflicht gegen die Pocken in Deutschland endgültig abgeschafft. Ältere tragen heute noch eine Erinnerung: eine Narbe im Oberarm, wo das Vakzin eingeritzt worden war.