Das Geheimnis der Weihnachtskarten

von Redaktion

VON STEFAN SESSLER

München – Nehmen wir zum Beispiel Markus Söder. Der bayerische Ministerpräsident ist ein Mann, der viele wichtige Menschen kennt. Das ist grundsätzlich eine gute Sache, aber an Weihnachten bedeutet das Stress. Denn er muss allen ein frohes Fest wünschen. Er kann nicht alle anrufen, sonst müsste er jedes Jahr spätestens ab Ende Juli die Amtsgeschäfte ruhen lassen und beginnen, Weihnachtsgrüße zu übermitteln. Aber zum Glück gibt es seit 1843 eine kleine, milliardenfach genutzte Erfindung: die Weihnachtskarte.

Söders diesjährige Karte lässt in vielerlei Hinsicht nichts anbrennen. Sie ist schlicht – ohne Schnörkel, ohne Schnee und auch ohne Engel in Lederhosen. Söders Weihnachtskarte zeigt Söder. Er blickt wie ein besonders spendabler Geschenkeonkel aus der Karte raus, daneben steht ein Weihnachtsbaum und der schöne Satz: „Ein gesegnetes Weihnachtsfest, viel Glück und Gesundheit im neuen Jahr 2022 wünscht Dr. Markus Söder.“

Es war ein junger englischer Lord, der uns diese Tradition geschenkt hat. Er hieß Sir Henry Cole und er hatte einen nikolausartigen Bart. Aber vor allem hatte er unfassbar viele Freunde, Verwandte und Geschäftspartner, die einen handgeschriebenen Weihnachtsbrief von ihm erwarteten. Sir Henry Cole steckte in demselben Dilemma wie Dr. Markus Söder – mit dem Unterschied, dass das Telefon noch nicht mal erfunden war.

Der wohlhabende Engländer, der später auch die allererste Weltausstellung im Londoner Hyde Park initiierte, war nicht nur ein Universalgelehrter, ein Freund von Charles Dickens und englischer Staatsbeamter. Sondern er war auch geschäftstüchtig. Am 5. Dezember 1843 gab er bei dem Illustrator John Calcott Horsley die erste Weihnachtskarte in Auftrag. Auf der Karte (siehe unten), die sich leicht vervielfältigen und in Windeseile unterschreiben ließ, erkennt man Mitglieder der Familie Cole, die zusammen Weihnachten feiern, Wein trinken, Weihnachtspudding essen und dem Empfänger der Karte zuprosten mit den Worten: „A Merry Christmas and a Happy New Year to You.“

Cole ließ sofort 1000 Karten drucken und von Hand kolorieren. Er nutzte die Karten für sich selbst, aber er verkaufte sie auch. Preis: ein Shilling pro Stück. Ein Schnäppchen war das nicht. Zum Vergleich: Ein Fabrikarbeiter musste für einen Shilling einen Tag schuften.

Wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass die allererste Karte aus dem viktorianischen England auch einen Mini-Skandal enthielt: Selbst der kleinste Spross der Familie Cole prostet mit einem Weinglas zu. Der moralische Aufschrei hielt sich in Grenzen und Sir Henry Cole bescherte seinen Landsleuten einen waschechten Weihnachtsbrauch. Noch heute sind die Engländer Weihnachtspost-Weltmeister: Über eine Milliarde Karten verschicken sie Jahr für Jahr.

Neben Cole gilt der deutsche Einwanderer Louis Prang als der König der Karten. In den 1840er-Jahren arbeitete er in böhmischen Druckereien, später verfolgte ihn die preußische Regierung, weil er bei der Revolution von 1848 mitgemischt haben soll. Kurz darauf wanderte er nach Amerika aus. Er ließ sich in Boston nieder und produzierte Grußkarten mit Naturszenen, Tieren oder Landschaften in Serie, später entdeckte er die Schönheit und Lukrativität der Weihnachtskarten. Auf einer gehen fünf Frösche mit Instrumenten hintereinander her. Darunter steht: „O Kinder, schließt euch unserer fröhlichen Gruppe an!“ Prang ist der „Vater der amerikanischen Weihnachtskarte“. Er machte sie zum Massenprodukt.

Hierzulande trat die Weihnachtskarte erst Jahrzehnte später ihren Siegeszug an. Die Deutschen waren nicht die Schnellsten, aber immerhin versuchen sie es mit Humor. Kürzlich stand auf einer Karte: „Was ist ein Keks unterm Weihnachtsbaum? Ein schattiges Plätzchen.“ Haha, Riesenbrüller. Spätestens jetzt kann Weihnachten kommen.

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