Riesenzoff um Garchinger Reaktor

von Redaktion

VON MAX WOCHINGER

Garching – Seit 17. März 2020 ist der Forschungsreaktor im Norden Münchens außer Betrieb. Wegen der Corona-Pandemie konnten Wissenschaftler kaum reisen. Vor der Pandemie nutzten etwa 1000 Forscher die hier produzierten Neutronen für Experimente und Untersuchungen. Neutronen aus der Kernspaltung werden in der Technik eingesetzt und auch in der Medizin (siehe Kasten). Strom wird in Garching keiner produziert, auch wenn es sich um ein kleines Atomkraftwerk handelt.

Geforscht wird in Garching schon lange. 1957 ging das sogenannte Atom-Ei der Technischen Universität München (TUM) in Betrieb. Der Forschungsreaktor München, kurz FRM, war die erste kerntechnische Anlage in Deutschland. Er diente als Neutronenquelle für Forscher. Eine Sensation in der noch jungen Bundesrepublik.

Aber es gab auch Proteste, denn der Forschungsreaktor wurde schon damals mit hoch angereichertem Uran betrieben, das Kritiker als atomwaffenfähig sehen. Im Jahr 2000 wurde der FRM abgeschaltet, 2005 nahm die „Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz“, kurz FRM II, den Betrieb auf.

Die Proteste sind geblieben, verschärft durch einen Zwischenfall im vergangenen Jahr. Am 14. Mai 2020 trat in Garching radioaktives Gas aus, weil es bei der Reinigung des Wassers im Reaktorbecken und der Bindung des radioaktiven Stoffs C-14 zu einem Bedienfehler gekommen war. Der Zwischenfall wurde erst nur als „Abweichung“, dann doch als „Störung“ eingestuft. Die TUM betont, das Ereignis habe „keinerlei Auswirkung“ auf Menschen und Umwelt gehabt.

Nun also will die TUM den Reaktor wieder anwerfen. Die Atom-Aufsichtsbehörde, in Bayern das Umweltministerium, hat bereits im März zugestimmt. In Betrieb ist FRM II trotzdem noch nicht. Seit Monaten arbeitet die TUM an einer komplizierten Neutronenkühlung. Sie muss ausgetauscht werden. Das sei „einigermaßen aufwendig“, sagt eine Sprecherin. Der genaue Anfahrt-Termin steht deshalb noch nicht fest.

Der Zeitdruck ist groß. 150 geplante Experimente haben sich angestaut. Ähnliche Forschungsreaktoren in Europa gibt es nur in Belgien und Frankreich, die Anlage in Grenoble wird derzeit auch gewartet. Wissenschaftler aus aller Welt warten auf die Garchinger Neutronen. Geht es nach den Kritikern, müssen sie das noch länger tun.

Denn der FRM II wird mit Brennelementen mit hoch angereichertem Uran-235 von 93 Prozent betrieben. Dieses sei atomwaffenfähig, sagen die Kritiker. Die TUM hält dagegen: Nur mit „komplexen Verfahren“ in Großanlagen könnten die Brennelemente zu kernwaffenfähigem Material verarbeitet werden, sagt Axel Pichlmaier, technischer Direktor des Forschungsreaktors. Die Elemente in Garching seien „weder technisch noch gemäß international anerkannter Definition waffenfähig“. Zudem gebe es sehr hohe Sicherheitsvorkehrungen.

Die hoch angereicherten Brennelemente sind seit Jahrzehnten ein Knackpunkt. Eigentlich sollte es sie gar nicht mehr geben. Bereits in den 70er-Jahren einigte sich die internationale Gemeinschaft auf einen Verzicht von hoch angereichertem Uran in Forschungsreaktoren. Die Genehmigung für den Betrieb des FRM II zwischen dem Bund und Bayern sah deshalb von Anfang an eine Umrüstung auf nur zu 50 Prozent angereichertes U-235 vor.

Bis 2010 sollte der Reaktor umgerüstet werden. Ein geeigneter Brennstoff sei bis heute aber nicht gefunden, sagt Axel Pichlmaier. Deshalb wird bis heute Uran-235 mit 93 Prozent verwendet, abgesichert durch eine weitere Vereinbarung zwischen dem Bund und Bayern.

Der Bund Naturschutz hält diese Vereinbarung für rechtswidrig, weil weder die atomrechtliche Aufsichtsbehörde des Landes noch die atomrechtliche Bundesaufsicht beteiligt gewesen seien. Zu diesem Schluss kommt auch ein von den Landtags-Grünen mit beauftragtes Gutachten. Das Fazit der Kritiker: Der Reaktorbetrieb sei illegal. Der Bund Naturschutz hat Klage gegen den weiteren Betrieb eingereicht. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof prüft die Klage derzeit.

Die TUM sieht sich im Recht. 2020 wurde die Umrüstungsvereinbarung bis 2023 verlängert. Erst dann müsse ein neuer Brennstoffkandidat mit weniger angereichertem Uran festgelegt werden. Bis 2025 will die TUM den Antrag fertig haben. Die Umrüstung sei nicht so einfach, sagt die Sprecherin des FRM II. Letztlich gehe es um die Entwicklung eines völlig neuen Reaktorkerns.

Umweltaktivisten halten das für vorgeschoben. Außerhalb Russlands seien fast alle Forschungsreaktoren schon umgestellt, „die TUM ist die prominenteste Ausnahme“, sagt etwa Alan Kuperman. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit knapp 30 Jahren mit den Garchinger Reaktor-Plänen. Ins Bild der Kritiker passt das Zurückziehen eines Forschungsmanuskripts von der Fachkonferenz RERTR. Ein Wissenschaftler, selbst Mitarbeiter an der TUM, bestätigte 2018 in dem Papier, dass eine direkte Umrüstung des Reaktors auf schwach angereichertes Uran möglich sei. Die TUM lehnte eine Freigabe des Papiers ab. „Der Entwurf des Mitarbeiters basierte auf falschen Annahmen“, so die TUM auf Nachfrage.

Und es gibt noch ein Problem: den Atommüll. Ein Brennelement enthält 8,1 Kilogramm Uran, das reicht für einen Forschungszyklus von 60 Tagen. Verbrauchte Elemente müssen sechs Jahre unter Wasser abklingen. 47 Abklingplätze sind in Garching bereits belegt – nur drei sind noch frei. Der Müll soll ins zentrale Zwischenlager nach Ahaus in Nordrhein-Westfalen. Insgesamt lagern im FRM II 400 Kilogramm Uransilizid. Die Zwischenlagerung sei „völlig ungeklärt“, sagt Claudia Köhler, Landtagsabgeordnete der Grünen. „Ein hochkomplexer Atommülltransport durch Bayern nach Norddeutschland steht bevor.“ Köhler kündigte eine Anfrage an die Staatsregierung an.

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