München – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt zwar davor, dass sich in zwei Monaten schon über die Hälfte der Menschen in Europa mit Omikron infiziert haben könnte. Doch Omikron könne damit wie ein „natürlicher Booster“ wirken, sagte Marco Cavaleri, Leiter der Abteilung biologische Gesundheitsbedrohungen und Impfstrategien bei der EU-Arzneimittelbehörde EMA. „Wenn viele Menschen eine starke Immunität haben, könnte das der Weg zur Endemie sein.“
Endemie (Altgriechisch für „im Volk“) bedeutet, dass eine Krankheit einen größeren Teil der Bevölkerung einer Region regelmäßig erfasst – wie etwa die Grippe. Das Immunsystem wird dann nicht mehr mit einem neuartigen Erreger konfrontiert, sondern ist durch frühere Infektion oder durch Impfung gewappnet. Erste Staaten stellen sich schon auf diese Neubewertung von Covid-19 als Endemie ein: Spanien etwa wird seine Infektions-Nachverfolgung künftig wie bei der Grippe nur noch mit statistischen Hochrechnungen betreiben, also nicht mehr die Einzelfälle verfolgen – allein deshalb, weil es angesichts der explodierenden Infektionszahlen gar nicht mehr anders geht.
In Spanien gab es zuletzt 242 400 Neuinfektionen an einem Tag. Spaniens Premierminister Pedro Sánchez betonte, dass die meisten dieser Infizierten keine oder nur schwache Symptome hätten. „Wir müssen lernen, mit dem Coronavirus zu leben wie mit vielen anderen Viren auch“, sagt Sanchez. Konkret bedeutet die neue Corona-Politik in Spanien auch, dass enge Kontaktpersonen von Infizierten sich nur noch dann testen lassen müssen, wenn sie Symptome haben.
Explodierende Infektionszahlen, aber vergleichsweise wenig schwer Erkrankte und keine steigenden Todesfallzahlen: Das zeigt auch die erste Omikron-Bilanz der WHO für Europa. Allein in der ersten Woche 2022 seien in der europäischen Region mehr als sieben Millionen neue Corona-Fälle nachgewiesen worden, was mehr als eine Verdopplung innerhalb eines Zwei-Wochen-Zeitraums bedeute. Die Sterberate bleibe aber stabil und sei weiterhin in Ländern mit hohen Inzidenzen und niedrigen Impfzahlen am höchsten. Das zeigt auch eine neue US-Studie mit fast 70 000 kalifornischen Patienten: Bei Omikron verkürzte sich demnach die Verweildauer im Krankenhaus gegenüber Delta-Patienten um mehr als drei Tage (70 Prozent). Die Zahl der Omikron-Todesfälle war sogar 91 Prozent niedriger als bei der Delta-Vergleichsgruppe.
Doch auch wenn Omikron-Infektionen meist milder verlaufen: Die große Gefahr fürs Gesundheitssystem besteht in der schieren Wucht der Fallzahlen. So werden in Spanien laut der Zeitung El Paìs derzeit mehr als 14 426 Corona-Fälle im Krankenhaus behandelt, mehr als in allen Corona-Wellen zuvor. 2056 Patienten liegen derzeit auf der Intensivstation – fast so viele wie beim bisherigen Höchststand in der vierten Corona-Welle, als 2356 Corona-Fälle intensivmedizinisch behandelt werden mussten.
Die Sorge vor der Überlastung des Gesundheitssystems lässt auch die bayerische Staatsregierung weiter vorsichtig bleiben. Staatskanzleichef Florian Herrmann (CSU) stellte aber auch klar, dass Omikron eine andere Politik erfordere: Man müsse die höherer Ansteckungsgefahr und die niedrigere Hospitalisierung „übereinanderlegen, um dann zu entscheiden: Was ist die richtige Antwort bei Omikron? Es kann nicht dieselbe sein wie bei Delta“, so Herrmann. Gerade erst hat Bayern trotz steigender Fallzahlen seine strengen Hotspot-Regeln gelockert.
Der führende US-Virologe Anthony Fauci geht davon aus, dass früher oder später fast alle Menschen infiziert werden. „Mit der außergewöhnlichen und beispiellosen Effektivität der Übertragung wird Omikron letztlich fast jeden finden“, sagt der Präsidentenberater. Bedrohlich sei das vor allem für die Ungeimpften: In den USA sind nur knapp 63 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft (Deutschland: 72,2 Prozent). Auch Geimpfte würden infiziert werden, aber die meisten von ihnen würde es nicht so schwer erwischen, sie müssten also nicht ins Krankenhaus oder würden nicht sterben, sagt Fauci.
Während einige Experten Omikron als Weg in die Herdenimmunität und damit raus aus der Pandemie sehen, warnen andere vor unberechenbaren Varianten: WHO-Vertreterin Catherine Smallwood glaubt, je stärker sich das Virus in Form von Omikron ausbreite und vermehre, „desto wahrscheinlicher ist es, dass es eine neue Variante hervorbringt“. Die dänische Epidemiologin Tyra Grove Krause meinte dazu: „Neue Varianten mögen uns herausfordern. Aber mit den Impfungen wird Sars-CoV-2 hoffentlich zu einem von vielen Atemwegsviren, mit denen wir normal leben können.“