Zufallsbefunde verzerren die Statistik

von Redaktion

Manche Infizierte werden nicht wegen Corona, sondern anderer Leiden eingeliefert. Das macht den Klinik-Alltag nicht leichter

VON MARC BEYER UND UNSEREN LOKALREDAKTIONEN

München – An der Krankenhauspforte sind alle gleich. Wer rein will, muss sich testen lassen. Wer rein muss, ebenfalls. Weil Patienten nach der Einweisung auf das Coronavirus untersucht werden, treten regelmäßig Zufallsfunde auf. Aus einem Herzpatienten wird ein Fall für die Corona-Statistik.

Medizinisch ist das nachvollziehbar, statistisch aber wird es knifflig. Weder das Robert-Koch-Institut (RKI) noch die Intensivmediziner-Vereinigung DIVI unterscheiden zwischen Patienten wegen und jenen mit einer Covid-Erkrankung. Deutschland, befand die „Neue Zürcher Zeitung“ dieser Tage, „befindet sich im Blindflug“.

Nicht jeder Vertreter des deutschen Gesundheitswesens mag da zustimmen. Unstrittig ist aber, dass man in anderen Ländern einen klareren Blick auf Hospitalisierungen und den Corona-Status hat. In Großbritannien wird schon lange zwischen diesen zwei Kategorien von Covid-Patienten unterschieden. Im Bundesstaat New York wird seit Januar so differenziert.

Im Königreich zeigt sich nun deutlich, wie die Ausbreitung der Omikron-Variante sich auf die Statistik auswirkt. Weil die Mutation deutlich ansteckender ist, aber meist mildere Verläufe hat, ist die Zahl der Neuinfektionen drastisch gestiegen. Auch die Zahl der Klinikeinweisungen hat zugenommen – darunter aber immer mehr Patienten mit Covid 19 als Nebenbefund. Im Sommer lag der Anteil derer, die vor allem wegen des Virus klinisch behandelt wurden, bei 80 Prozent. Inzwischen sind es rund 67.

Würde man das Drittel herausrechnen, das aus anderen Gründen in die Klinik kam, könnte das Auswirkungen auf die Aussagekraft der Statistik haben. Das ist von Bedeutung, weil die Hospitalisierung immer wieder als ein zentrales Argument für schärfere Maßnahmen herangezogen wird. Die Zahlen, die für Klarheit sorgen sollen, könnten also in die Irre führen. Während aus der Politik Rufe laut werden (siehe Interview), die Statistiken getrennt auszuweisen, will das RKI die bisherige Praxis beibehalten. Es verweist auf Daten, die oft unvollständig sind und eine differenziertere Ausweisung erschweren. Zudem sollten Meldungen zügig und niedrigschwellig erfolgen. Sollte aber der Anlass der Einlieferung offensichtlich nicht Corona sein, etwa nach einem Unfall, entfalle eine Meldepflicht.

Im täglichen Umgang mit Patienten macht es kaum einen Unterschied, ob Corona Erst- oder Nebenbefund ist. Jeder Betroffene muss isoliert werden. Relevant wird die Frage „Wegen oder mit?“ erst danach – wenn überhaupt. Florian Amor, Oberarzt auf der Intensivstation am Schongauer Krankenhaus, hält eine Differenzierung für „kaum möglich“, weil sich nicht klar trennen lasse, ob eine Infektion sich auf andere Leiden ausgewirkt haben könnte. „Ein Beispiel: Jemand stürzt, weil ihm schwindelig wurde, und bricht sich den Arm. Wurde ihm schwindelig, weil er eine Corona-Infektion hatte? Oder lag es daran, dass er Kreislaufprobleme hatte?“

Ähnlich äußert sich Sascha Alexander, Sprecher des Klinikums Freising. Komme ein Patient mit Magenbeschwerden, werde positiv getestet, entwickle Symptome und sterbe, lasse sich oft nicht unterscheiden, ob er an oder mit Corona gestorben sei.

Noch spekulativer wird es bei Herzinfarkten, Nierenversagen, Schlaganfällen. „Wir wissen, dass die Covid-19-Infektion eine komplexe Multi-Systemerkrankung ist“, sagt Loren Nowak, Chefarzt in der Lungenfachklinik Gauting. Sämtliche Corona-Patienten wurden dort wegen des Virus eingeliefert. Sein Haus mag als offizielles Lungenzentrum ein Sonderfall sein, Nowak geht aber davon aus, dass auch in Häusern mit allgemeiner Notaufnahme Zufallsbefunde „derzeit klar eine Minderheit darstellen“.

Eine Umfrage bestätigt das. Im Klinikum Garmisch-Partenkirchen ist einer der aktuell zehn Covid-Patienten ein Nebenbefund, im Klinikum Dachau nur einer von 19. Das Inn-Klinikum Mühldorf spricht von Einzelfällen im Verlauf der Pandemie. In der Ebersberger Kreisklinik sind es immerhin vier der aktuell 13 Corona-Patienten, das Klinikum Traunstein teilte mit, „rund ein Drittel“ der aktuellen Corona-Patienten auf Normalstation sei wegen einer anderen Diagnose gekommen. Das Klinikum rechts der Isar in München erklärte, man führe dazu gar keine Statistik.

Raphael Diecke, Sprecher der München Klinik, weist auf einen gegenläufigen Effekt hin, der auch bemerkenswert sei. Werde ein Covid-Patient in der Klinik wieder negativ getestet, falle er als „entisoliert“ aus der Statistik raus, „auch wenn er mit hohem Aufwand weiter auf Station mit den Nachwirkungen der Infektion für mehrere Wochen behandelt werden muss“.

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