Oberaudorf/Kochel am See – Josef Kiesl tuckert mit seinem roten VW Touran die Alpenstraße am Tatzlwurm hinauf. „Diese Leitplanken stammen noch aus der Zeit von Hitler“, sagt er, als er eine steile Kurve nimmt. „Hier muss man vorsichtig fahren.“ Schon viele Motorradfahrer sind auf der Alpenstraße verunglückt, und auch ein Profi-Rennfahrer. 1968 war das. Der Italiener Ludovico Scarfiotti starb beim Training zum Roßfeld-Rennen. Der 70-Jährige Josef Kiesl weiß um die Gefahren, die auf der Alpenstraße lauern. Bereits in der dritten Generation führt er das Traditionshotel „Feuriger Tatzlwurm“ im Luftkurort Oberaudorf im Kreis Rosenheim. Aber vor allem weiß er eines: Die Straße ist auch ein traumhafter, ein einzigartiger Ort.
Die Deutsche Alpenstraße gilt als Inbegriff Bayerns. 25 Burgen und Schlösser, 21 Bergseen und 64 Kurorte liegen an ihrer Route zwischen Lindau am Bodensee und Schönau am Königssee. 484 Kilometer ist die Strecke lang. Die meisten fahren sie mit dem Auto, andere mit dem Motorrad oder, wer Zeit und genügend Schmalz hat, mit dem Fahrrad.
Wenn man so will, wurde die Alpenstraße nicht gebaut. Sie entstand in einem fast hundert Jahre dauernden Prozess. Und es ist weniger die Straße, die im Mittelpunkt steht, als das, was sie umgibt. Sehenswürdigkeiten und ein Panorama, die einen den Alltag vergessen lassen.
Für Josef Kiesl ist die Straße sein Alltag. Deswegen sieht er sie auch nicht mehr ganz so romantisch wie seine Gäste. Der Familienbetrieb stammt aus einer Zeit, als es am Tatzlwurm nur Feld- und Kieswege gab. „Die Alpenstraße war die erste geteerte Straße, die wir hier hatten“, erinnert sich Kiesl. Ein Höhepunkt in seiner Kindheit. Oft brauste er mit dem Radl die asphaltierte Straße hinab. Kiesls Vater hatte den Bau der Straße vom Tatzlwurm bis nach Bayrischzell nach dem 2. Weltkrieg vorangetrieben. „Für den Tourismus ist die Alpenstraße ein wichtiger Achsenpunkt.“ Seit 50 Jahren führt er sein Hotel. Der Fremdenverkehr habe sich in dieser Zeit stark gewandelt, sagt er. Statt Spazierfahrten auf der Alpenstraße zu machen, nutzen die Gäste die Ferienroute meist nur noch zur An- und Abreise. Auch die Anforderungen ans Hotel haben sich verändert. „Die Gäste wollen Wellness und wandern.“
Kiesl fährt rechts ran. Sein Blick wandert die steile Alpenstraße hinauf. „Hier bin ich als Bub mit den Rollerblades runtergefahren“, erzählt er und grinst. „Als ich ein Auto überholt hab, hätte den Fahrer fast der Schlag getroffen.“ Die Sache sei aber gut ausgegangen. „Irgendwo hab ich schon bremsen können.“
Die letzte Tanke in Kochel am See
Selbe Straße, etwa 100 Kilometer weiter westlich in Kochel am See: Schon von Weitem erkannt man die vier roten Buchstaben der Leuchtreklame auf der historischen Esso-Tankstelle. „Von diesem Schild gibt es nur noch zwei in ganz Deutschland“, erzählt Wolfgang Poll stolz. Das niedrige Dach der Tankstelle hat aber schon oft zu Pannen geführt. Schon mehrmals brauchte der 53-Jährige eine neue Dachrinne, weil ein Lkw gegen die Decke stieß.
Vor 30 Jahren gab es in Kochel am See noch sechs Tankstellen. „Mittlerweile sind wir die einzige hier“, sagt Poll. Er sitzt im Hinterzimmer der Tankstelle. An die 200 Carrera-Autos stapeln sich an der Wand. Auf dem Lederhocker döst eine Katze, Metal-Musik wummert aus den Boxen. Für Konzerte fährt Poll gerne nach München. In einer Großstadt zu wohnen, kann er sich aber nicht vorstellen. „Ich liebe diese Gegend.“
Was Poll auch liebt, sind Autos. Neben der Tankstelle betreibt er noch eine Autowerkstatt, wie Kiesl in dritter Generation. Früher hatten er und sein Vater Werner auch einen Abschleppdienst. „Einmal ist eine Frau von der Alpenstraße abgekommen und in die Loisach gefahren“, erinnert sich Poll und streichelt seine Katze. „Die Frau war eingeklemmt, aber wir konnten sie rechtzeitig befreien.“ Den Abschleppdienst hat die Familie aufgegeben, das gleiche Schicksal wird wohl auch Tankstelle und Werkstatt ereilen, denn von seinen Kindern will niemand den Familienbetrieb weiterführen. „Die klassische Tankstelle ist eben am Aussterben“, sagt Poll. Wenn er in Rente geht, wird es eine historische Tankstelle weniger an der Alpenstraße geben. Doch bis dahin sind es noch ein paar Jahre.