München – Hinfliegen oder zu Hause bleiben? Natalie Geisenberger, 33, hat lange gezaudert, ob sie an den Olympischen Spielen teilnehmen soll. Das lag vor allen an den schlechten Erfahrungen, die die Rodlerin letztes Jahr bei einem Testwettbewerb in Peking machen musste. Im Endeffekt hat sich Geisenberger doch pro Olympia entschieden. Ihr erster Lauf ist am Montag, 7. Februar. Hierbei hat auch die Familie um Sohn Leo, der seit dem 2. Mai 2020 das Leben der Miesbacherin bereichert, eine wichtige Rolle gespielt. Fünf Olympiamedaillen hat Geisenberger in ihrer Karriere schon gesammelt – folgt in Peking die nächste? Die gebürtige Münchnerin weiß um die starke Konkurrenz, muss sich an einem guten Tag aber auch vor niemandem verstecken.
Frau Geisenberger, im letzten Rennen vor Olympia haben Sie Ihren ersten Saisonsieg gefeiert – EM-Gold in St. Moritz. Ein besseres Timing kann man sich wohl nicht wünschen.
Im Leistungssport kann man ja eh wenig planen. Der Sieg kam schon ein wenig überraschend für mich. Im ersten Moment dachte ich mir: Hä, was ist denn jetzt passiert? Ich wusste, dass ich auf das Podest fahren kann. Mit einem Sieg habe ich aber gar nicht gerechnet. Es war ein bisschen wie bei meinem ersten EM-Titel.
Beim Olympia-Test in Peking sind Sie letztes Jahr im November gestürzt. Wie sind Sie damit umgegangen?
Wenn die Saison gleich so losgeht, ist das natürlich schwierig. Nach Peking hatten wir ja gleich dieses Startnummernrennen in Sotschi, bei dem die hinteren Startnummern, aufgrund der Witterung, im Prinzip keine Chance hatten. Da war ich nach zwei echt guten Läufen am Ende nur Achte. Aus diesem Loch musste ich mich dann erst mal rausziehen.
Auch abgesehen von dem Sturz war Ihre Zeit in Peking keine schöne Erfahrung.
Um ehrlich zu sein, habe ich von der Reise von Anfang an nicht viel erwartet. Während der Reise hat man sich dann immer gedacht: Na gut, schlimmer kann es jetzt nicht mehr werden. Aber es wurde schlimmer. Das fing schon bei der Anreise an, als wir stundenlang im Bus saßen und nicht auf die Toilette konnten. Stattdessen wurde uns dann ein Kanister gereicht. Das war schon brutal.
Wie ging es weiter?
Wir haben unser Gepäck abgegeben und anschließend 24 Stunden nicht mehr wieder gesehen. Du kommst in deinem Hotel an und hast nichts mehr, außer dein Handgepäck. Hätte ich das gewusst, hätte ich mir vorher noch ein paar persönliche Sachen gesichert. Ich hatte zwölf Tage keinen Pass. Das ist kein schönes Gefühl, wenn du in einem anderen Land bist und kein Dokument hast, wo dein Name draufsteht.
Wie war die Kommunikation mit den chinesischen Helfern?
Bei einer meiner ersten Fahrten bin ich gestürzt, mir ist nichts passiert, aber ich kam an einer sehr steilen Stelle zum Liegen. Ich dachte mir, es wird mir schon einer helfen. Nach vielleicht einer Minute kam dann ein Helfer und fragte, ob ich verletzt sei. Als ich das verneinte, meinte er nur: „Dann raus aus der Bahn, wenn du nicht verletzt bist, darf ich dir nicht helfen.“ Und das waren nur die Eindrücke von den ersten zwei Tagen. Man fühlt sich hilflos, wenn man seine Situation niemandem erklären kann. Es gibt keine Antworten. Wo ist unser Gepäck? Wann bekommen wir unsere Pässe wieder? Die Helfer vor Ort sprechen, wenn überhaupt, nur schlecht Englisch. Die Sprachbarrieren verschlechtern die Situation noch einmal. Man weiß halt nie, warum Sachen passieren.
Aktuell gibt es die Befürchtung, Corona-Tests könnten gefälscht werden. Wie waren Ihre Eindrücke vor Ort?
Um 23 Uhr abends waren täglich Corona-Tests, um fünf in der Früh wieder. Wann sollen wir da schlafen? Ich brauche definitiv mehr als fünf Stunden Schlaf, um fit zu sein. Zudem habe ich mir auch immer die Frage gestellt: Was passiert jetzt mit meinen Tests? Wir mussten uns nicht ausweisen. Es wurde einfach geklopft und dann wortlos getestet. Einen Ausweis wollte keiner sehen. Ich hatte keine Gewissheit, dass ich tatsächlich auch das Ergebnis für meinen Test erhalte. Wir hatten einfach keine Kontrolle bei solchen Angelegenheiten, kein Mitspracherecht. Ich hoffe einfach, dass die Tests jetzt bei den Spielen so ablaufen, wie sie sollen. Die Befürchtung, dass Tests bewusst manipuliert werden, habe ich nicht.
Sie durften die Tage in Peking, abgesehen von Wettkämpfen und Training, nur im Hotelzimmer verbringen. Wie schwer war das?
Wir Sportler reisen das Jahr über unglaublich viel. Da werden die Kollegen schon zu einer Art Ersatzfamilie. Die ersten Tage war ich noch mit Dajana Eitberger auf dem Zimmer. Plötzlich hieß es dann, dass sie das Zimmer verlassen muss. Ohne irgendwelche Angabe von Gründen. Es gab kein gemeinsames Essen, sondern nur Plastikschalen, die einem lieblos vor die Tür gestellt wurden. Ich habe mir schon oft gedacht: Das kann doch nicht wahr sein. Das ist der Wahnsinn hier. Leistungsfördernd waren die ganzen Umstände jedenfalls nicht.
Sie haben darüber nachgedacht, nicht nach Peking zu reisen. Haben Ihre Gespräche mit dem IOC und Thomas Bach den Ausschlag pro Olympia gegeben?
Ich wollte einfach ein besseres Gefühl haben. Bei der Rückreise aus Peking letztes Jahr saßen wir sieben Stunden am Flughafen und absolut alle Shops hatten geschlossen. Wir hatten also nichts, nicht mal Wasser. So was darf sich nicht noch mal wiederholen. Deshalb war es mir wichtig, dass ich meine Erlebnisse mit Verantwortlichen besprechen kann. Mir wurde versprochen, dass unsere Sorgen ernst genommen werden und Sachen geändert werden. Dass der Bus auf dem Weg zur Wettkampfstätte immerhin zwei Mal anhält und wir auf die Toilette gehen können. Dass es ein richtiges Testcenter gibt. Ob die Versprechen dann auch eingehalten werden, bleibt abzuwarten. Ein mulmiges Gefühl bleibt. Ich schreie jetzt nicht „hipp, hipp, hurra“ vor der Reise. Aber ich habe versucht, meine Stimme zu nutzen und Verbesserungen für uns Athleten zu erwirken.
Welche Rolle hat Ihre Familie bei der Entscheidung gespielt?
Die Spiele in Peking haben wir damals bei der Geburt von Leo als Familienprojekt ausgerufen. Das wollte ich nicht einfach so wegwerfen. Ich wollte mir nicht irgendwann Vorwürfe machen, dass ich diese Chance nicht wahrgenommen habe. So kurz vor dem Ziel. Auch wenn es anders wird, die Olympischen Spiele bleiben das Allergrößte, das du als Sportler erreichen kannst. Das darf man nie vergessen. Es gibt viele Diskussionen über einen Boykott und warum die Spiele ausgerechnet in Peking stattfinden müssen. Wir Sportler können beim Austragungsort aber nicht mitwählen, im Endeffekt entscheiden uns die Funktionäre in ein Land und das steht dann auf unserem Reiseplan.
Apropos Reisen. Wie schaffen Sie es, Familie und Leistungssport zu verbinden?
Das ist ein brutaler Aufwand, da bin ich ehrlich. Aber mein Mann und meine Eltern unterstützen mich zu hundert Prozent. Ich will Leo so oft wie möglich bei mir haben, deshalb war er bei vielen Weltcups dabei. Der Rückweg von Winterberg hat sieben Stunden gedauert, fünf Stunden hat Leo geschlafen. Ich habe immer gesagt: Wenn Leo keine Lust auf die Reisen hat, dann lasse ich das alles. Dass mein Kind nicht drunter leiden muss, steht über allem.
Gibt es von Leo denn auch mal Lob, wenn Sie eine Medaille mit nach Hause bringen?
Das ist wie beim Hund. Dem Kind ist es völlig egal, ob ich mit einem Erfolg nach Hause komme oder nicht (lacht). Die Umarmung fällt immer gleich herzlich aus. Ich habe Leo aus St. Moritz eine Bergziege als Stofftier mitgebracht. Die Bergziege ist für ihn viel interessanter als meine Goldmedaille.
Sie sind vierfache Olympiasiegerin, haben in Ihrer Karriere 13 EM-Medaillen gesammelt. Was motiviert Sie aktuell noch?
Es macht einfach Spaß. Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich kann immer wieder meine Grenzen austesten. Wo sind die Grenzen des Materials? Dieses Tüfteln, sich immer weiterentwickeln – das gibt mir viel. Ich habe mehr erreicht, als ich mir je erträumt hatte. Dieses Gefühl, wie in St. Moritz, wenn man sich für die harte Arbeit belohnt. Oder wenn man die deutsche Hymne hört und eine Medaille in den Händen hält. Aber auch die Tiefpunkte, die ich überwunden habe, zähle ich zu meinen Erfolgen. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo mir der Sport nichts mehr gibt. Aber bis dahin gebe ich alles. Und möchte alles erreichen, was möglich ist.
Also gibt es keinen Druck, in Peking noch mal eine Olympiamedaille zu holen?
Ich habe fünf Olympiamedaillen, die kann mir keiner mehr nehmen. In Peking gibt es, denke ich, sieben Mädels, die um die Medaillen mitfahren können. Ich weiß aber auch um mein eigenes Können und muss mich vor niemandem verstecken. Aber wie schon gesagt, Leo freut sich auch, wenn ich einfach ein Stofftier aus Peking mitbringe (lacht).
Interview: Nico-Marius Schmitz