München – Vielleicht war das der furchtbarste Moment in seinem Leben. Mitten im Fußballstadion. Für den Besuch des Bundespräsidenten in Bayern hatte sich Axel Bartelt eine lustige Idee ausgedacht: Besuch der fast fertigen Münchner Allianz-Arena, ein gemeinsames Elfmeterschießen des Ehrengastes mit Edmund Stoiber. Es klappte alles, die Ehrenkompanie, die roten Teppiche, die Blaulichtkolonne vom Flughafen, der Einlauf ins Stadion, dutzende Journalisten, die Kameras im Anschlag, bereit für wunderbare Bilder. Stoiber stellte sich also mit Horst Köhler auf ein Stück Rasen, drehte sich zu seinem langjährigen Mitarbeiter Bartelt um und sagte: „Jetzt können Sie uns den Ball geben.“
Und Bartelt dachte: Ball. Ja, der Ball. Der Ball? Wo – um Himmels willen – ist der Ball?!
An dem Fleck, wo der Ball bereitliegen sollte, war keine Spur mehr davon. Nicht auf dem Rasen, nicht auf den Rängen. „Das sind Momente, da möchte man am liebsten im Erdboden versinken. Da gefriert einem das Blut. Aber man darf sich bloß nichts anmerken lassen.“ Was genau dann geschah, da ist sogar seine Erinnerung unscharf. Binnen Sekunden ließ er jedenfalls sämtliche Mitarbeiter der Protokollabteilung ausschwärmen, irgendwo – sofort! – einen Ball aufzutreiben. An Bundespräsident und Ministerpräsident erging der Rat, sie müssten ganz dringend noch ein Interview geben vor dem Elfmeter, oder ein Autogramm. „Und dann haben wir bei irgendwelchen Bauarbeitern im Stadion einen alten Ball gefunden, mehr eine Pflaume, und uns ausgeliehen.“
Das Elfmeterschießen war gerettet. Stoiber und sein Gast Köhler schossen hemdsärmelig, mit wehenden Krawatten, die gelb-blaue Pflaume ins Tor, oder daneben, es war eine Gaudi, Stoiber siegte 2:1. Und das Leben von Axel Bartelt ist seit jenem Oktober-Tag 2004 um eine schillernde Episode reicher.
Heute kann er drüber lachen, herzhaft sogar. Denn in diesen Tagen geht der 65-Jährige in den Ruhestand, zu genießen am Chiemsee, ohne dass ihm je im Dienst der Kopf abgerissen worden wäre. Für Bartelt ist die Ball-Sache jetzt eine von vielen Geschichten im Rückblick auf ein buntes Leben als Zeremonienmeister der weiß-blauen Politik. Eine Geschichte, die man ihm kaum zugetraut hätte, denn wo immer er am Werk war, schienen Perfektion und Disziplin zu herrschen. Über ein Jahrzehnt lang organisierte der Beamte das Protokoll für Bayerns Staatsregierung. Oberster Maßstab: Reibungslos soll es abgehen, egal wo. Und falls etwas nicht reibungslos lief, durfte es niemand merken.
Die Funktion als Protokollchef hatte Bartelt von 2003 bis 2014 inne, ehe er Regierungspräsident der Oberpfalz wurde. Politiker und Journalisten, die mit ihm zu tun hatten, erinnern sich an einen Herrn im makellosen Anzug, Krawatte und Einstecktuch perfekt abgestimmt, im Auftreten höflich und weltgewandt. So einer, der nachts um vier aus dem Stegreif sagen könnte, ob der Vizeaußenminister von Burundi als Eure Eminenz oder Ihre Exzellenz anzusprechen ist; als wäre er einer alten Diplomaten-Dynastie entsprungen. Was ihm aber gar nicht in die Wiege gelegt war, die Eltern Flüchtlinge aus dem Sudetenland und aus Mecklenburg, die nach dem Krieg in einem winzigen Dachzimmer in Ulm neu anfingen, Apfelsinenkisten als Möbel.
Nun, er arbeitete sich hoch, Jurastudium, ein ziemlich gutes Staatsexamen, Ruf ins Innenministerium, dort Zusammentreffen mit einem Minister namens Edmund Stoiber. Eine glänzende Beamten-Karriere eben (ohne Parteibuch übrigens) im engstem Umfeld des gnadenlos fordernden Arbeitstiers Stoiber.
Kurz zur Erklärung: Ein Protokollchef kümmert sich unter anderem um hohe Besuche in Bayern, plant, organisiert, betreut (heute ist das Alfred Rührmair). Er berät und begleitet die Ministerpräsidenten auf Auslandsreisen – von der ersten Idee bis am Ende zur Frage, in welchem Staatskellerregal die Mitbringsel zu verstauen sind. Ein Beruf, der sehr lebendig klingt, wenn Bartelt erzählt.
„Das wird von vielen unterschätzt, von manchen aber gefürchtet“, sagt er nämlich. „Es geht doch nicht nur darum, wie das Besteck beim Festbankett liegt oder die Gläser stehen.“ Mehr gehe es um Atmosphäre, Wertschätzung und vor allem das Placement – wer neben wem sitzt, wer miteinander ins Gespräch kommt. Bei ein, zwei Gläsern Wein vielleicht, zum Beispiel in München beim Dinner am Rande der Sicherheitskonferenz. Manchmal wird da die Basis gelegt, wie zwei Staaten miteinander umgehen.
Das ist plötzlich ein sehr akutes Thema angesichts der Weltlage, speziell jener im Osten Europas. Bartelt war Protokollchef für Stoiber, als der seine enge Beziehung mit Wladimir Putin allmählich aufbaute. 2006 nahm das seinen Anfang, als der russische Herrscher einen offiziellen Staatsbesuch in München absolvierte. In der Zeitung stand damals, dass es so hohe russische Gäste selten gebe, also zuletzt Zar Nikolaus I. im Jahr 1834. Bartelts Aufgabe war jedenfalls, den Besuch für Putin zu einer besonderen Erinnerung zu machen.
„Unsere Staatsgäste sollen mit dem Eindruck heimfahren, dass sie nirgends auf der Welt so viel Aufmerksamkeit und so viel Wertschätzung erfahren haben“, sagt er, „und dass es von Herzen kommt, nicht aus Berechnung.“ Also ließ Bartelt von Starkoch Heinz Winkler ein Mittagessen kreieren und von Käfer im Antiquarium der Residenz servieren, Entenbrust, Krebse, Rehrücken. Der Protokollchef telefonierte nach Moskau, um Putins Kragenweite zu erfragen, kaufte dann bei Loden Frey einen Trachtenjanker in passender Größe. Ließ ihn Putin ins Hotelzimmer hängen mit der Einladung zum Bayerischen Abend im Brauereigasthof Aying.
„Dieser Abend hat sicher dazu beigetragen, dass sich das besondere Verhältnis Stoiber-Putin herausgebildet hat“, sagt Bartelt. Und schildert, für wie wichtig und für wie friedenssichernd er es hält, dass die Regierenden miteinander reden, einen kurzen Draht haben, sich respektieren. Am Ende jenes Ayinger Abends ließ sich Putin jedenfalls zum Flughafen fahren, wurde dort in allen Ehren verabschiedet, wieder Konvoi, Teppich, Spalier. Vor dem Flugzeug verabschiedete sich Putin, so schildert es Bartelt, im Mondlicht mit einer Umarmung von Stoiber. Auf halbem Weg die Flugzeugtreppe hoch sei der Russe noch mal umgedreht, auf Bartelt zu. Händedruck und ein Lob auf Deutsch: „Das haben Sie gut gemacht.“ Von Joe Biden, damals US-Vizepräsident, bekam Bartelt sogar mal ein persönliches Dankschreiben für den warmen Empfang in Bayern.
Ob sich ein Ministerpräsident so für Außenpolitik interessiert, wie es Strauß und Stoiber taten, liegt außerhalb der Macht des Protokolls. Aber den Rahmen so setzen, dass Politiker vertrauensvoll reden können: Das ist der Job der Beamten. Dafür sorgen, dass man einen guten Eindruck hinterlässt bei Gästen und im Gastland. Auch wenn da manchmal Tücken lauern. Reiseteilnehmer erinnern sich, wie Stoiber 2003 in China ein Acht-Gänge-Menü aus unter anderem schwer definierbarer, weiß-glibberiger Masse verdrückte, ohne mit der Wimper zu zucken. Oder wie Beckstein 2008 in Saudi-Arabien fast gestrandet wäre, weil auf dem Flughafen Riad niemand seine Maschine betankt hatte.
„Die goldene Regel des Protokolls: Egal, was passiert – nichts anmerken lassen. Form wahren. Ruhe wahren“, schildert Bartelt. Nach hektischen Telefonaten und glühenden Leitungen zwischen Riad und München fand sich im Öl-Königreich auch ein Tankwart für Beckstein, ohne dass die 50-köpfige Delegation die Aufregung überhaupt ahnte. Das klappt, wenn das Protokollteam reibungslos arbeitet, so wie es Bartelt schildert, der in hohen Tönen seinen damaligen Stellvertreter Werner Meister lobt.
Wobei es im Hintergrund auch mal kräftiger kracht, auch unter den Protokollchefs, und manchmal echt um Spitzfindigkeiten. Beim Papst-Besuch in Bayern 2006 zum Beispiel wollte Bartelt am Flughafen die Bayernhymne spielen lassen – das Bundespräsidialamt bestand im Vorfeld indes darauf, die Bundeswehr-Kapelle werde nur die vatikanische Hymne und das Deutschlandlied spielen. Alles andere wurde als eitles Bayern-Gehubere abgetan. Der Streit eskalierte immer weiter, am Ende war Stoiber persönlich involviert. Er forderte: nicht nachgeben.
Bartelt teilte dem Bundespräsidialamt schließlich mit, die Gebirgsschützen, Trachtenabordnungen und Blaskapellen, die den Papst vor der Maschine empfangen, seien gerne bereit, für die Bundeswehr einzuspringen, sollte diese mangels Notenmaterial nicht in der Lage sein das Bayernlied zu spielen. Und zwar genau in der Sekunde, in der die Hymnen des Vatikans und der Bundesrepublik beendet seien – man wolle quasi in Amtshilfe das Bayernlied für den bayerischen Papst intonieren.
„Da haben sie in Berlin dann zähneknirschend aufgegeben“, erzählt Bartelt fröhlich. „Die Bundeswehrkapelle hat auch das Bayernlied fehlerfrei und wunderschön gespielt.“