Moskau/Kiew – „Im Moment schießen sie so stark wie 2015“, sagt Anna Welitschko. Sie lebt in der ostukrainischen Stadt Awdijiwka, oberhalb der Frontlinie. Die 39-Jährige hat einen guten Blick auf Donezk, die Hauptstadt der gleichnamigen „Volksrepublik“. Von dort feuern die prorussischen Separatisten regelmäßig. Welitschkos Wohnhaus wurde schon 2014 schwer beschädigt, als der bewaffnete Konflikt begann.
Nun ist die Gewalt neu aufgeflammt. Bei Bombardements starben am Montag nach Angaben der ukrainischen Armee zwei Soldaten und ein Zivilist. 18 Soldaten seien teils schwer verletzt worden. Die pro-russischen Separatisten vermeldeten einen toten und drei verletzte Kämpfer. Und die Gefahr eines offenen Krieges zwischen der Ukraine und Russland wächst Tag für Tag.
„Ich möchte Putin und Selenskyj ohrfeigen“
Bei Anna Welitschko überwiegt aber nicht Angst, sondern Wut. „Ich möchte Putin und Selenskyj ohrfeigen“, sagt sie. Die beiden Staatschefs sollten sich „endlich hinsetzen und sich einigen, um diesem Krieg ein Ende zu machen“.
Doch eine solche Lösung scheint weiter entfernt denn je. Trotz scharfer Sanktionsdrohungen des Westens hatte Putin am Montagabend in einer langen und scharfen Rede Donezk und Luhansk als unabhängige Republiken anerkannt. Putins Rede war ein verbaler Frontalangriff. Der 69-jährige Präsident sprach der Ukraine die Daseinsberechtigung ab (siehe Artikel unten), warf ihr einen Völkermord an Russen in der Ostukraine vor und sprach von der Gefahr für Russland, die Ukraine könne mit alter sowjetischer Technologie versuchen, eigene Atomwaffen zu bauen.
Am Dienstag wird dann deutlich, dass Russland sich mit der Anerkennung der Separatistengebiete nicht zufriedengibt. Putin erklärt, man erkenne Donezk und Luhansk in ihren deutlich größeren ursprünglichen ukrainischen Grenzen an. Dadurch könnte sich die Frontlinie weiter nach Westen in die derzeit von Kiew kontrollierten Gebiete der Ostukraine verschieben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigt am Dienstag eine Teilmobilisierung von Reservisten an.
Die Einwohner von Awdijiwka bereiten sich auf das Schlimmste vor. Die 67-jährige Tetiana Politschuk hat selbst in den furchtbarsten Kriegstagen ihre dortige Wohnung nicht aufgegeben. Jetzt gebe es aber vielleicht keinen anderen Ausweg mehr, sagt die Rentnerin. „Sie haben angefangen, viel mehr zu feuern.“ Taschen mit wichtigen Dokumenten und dem Nötigsten stehen an der Tür bereit. Sollten die Russen einmarschieren, will sie zu ihrer Tochter nach Kiew flüchten. „Putin ist ein Mistkerl“, sagt sie. Der Kreml-Chef habe die fixe Idee, „ein Reich für sich zu schaffen, nach dem Vorbild der UdSSR“.
Was Putin genau will, darüber rätselt der Westen. Am Dienstag dementiert der russische Präsident, dass „Russland das Reich in den imperialen Grenzen wieder errichten“ wolle. „Das entspricht absolut nicht der Wirklichkeit.“ Für US-Präsident Joe Biden jedenfalls ist schon die Anerkennung der Separatistengebiete der „Beginn einer Invasion“. Man glaube nach wie vor, dass Russland bereit sei, deutlich weiter zu gehen, sagt er am Dienstagabend, als er konkrete Sanktionen und die Verlegung weiterer US-Truppen aus anderen europäischen Ländern in die baltischen Staaten verkündet.
Nach Ansicht des Kölner Politikwissenschaftlers Thomas Jäger geht es um weit mehr als die Frage einer Nato- Mitgliedschaft der Ukraine. Russland wolle neben den USA und China die dritte Weltmacht sein. „Das kann es auf sich alleine gestellt nicht.“ Putin verfolge die Idee eines großen Europa unter russischem Einfluss. „Die Ukraine habe dabei einen hohen Symbolwert. Zudem wolle Putin erreichen, dass die USA ihre Nuklearwaffen von europäischem Boden abziehen. „Das ist das Hauptziel.“
Russische Panzer bei Donezk gesichtet
Moskau dementiert am Dienstag, dass bereits Soldaten in den anerkannten Gebieten seien. Doch ein Reporter der Nachrichtenagentur Reuters berichtet von Panzern in der Region um Donezk. Er habe sieben Kolonnen gesehen, ohne sichtbare russischen Insignien, zitiert ihn die Bild-Zeitung. Auch deren Reporter vor Ort spricht von solchen Augenzeugenberichten. Was das für weitere Verhandlungen bedeutet, ist unklar. Biden sagt am Dienstagabend: „Wenn alles gesagt und getan ist, werden wir Russland nach seinen Taten und nicht nach seinen Worten beurteilen.“ Die USA und ihre Verbündeten und Partner seien „weiter offen für Diplomatie. Wenn sie ernst gemeint ist.“ Kurz danach sagt sein Außenminister Antony Blinken ein für Donnerstag geplantes Treffen mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow ab. Mit Blick auf das Vorgehen Moskaus habe es keinen Sinn, an dem Gespräch festzuhalten.
Für Menschen wie Jewgen Zyganok steigt also die Ungewissheit. Der 27-Jährige floh schon einmal. Er kam nach der Eroberung von Donezk 2014 nach Awdijiwka. Der Konflikt bestimmt bis heute sein Leben. „Manchmal wird eine sehr große Granate oder so was abgeschossen und du spürst das mit deinem gesamten Körper“, sagt er. „Aber wir haben nichts, wohin wir fliehen könnten, weil meine Eltern auf der anderen Seite sind, in Donezk. Weder sie noch wir können irgendwohin. Das ist unser Land.“