Der Papst bat ihn um Verzeihung

von Redaktion

Auch Alois Reichgruber wurde von Pfarrer T. missbraucht. Das ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der 2011 in unserer Zeitung erschien

Unterwössen/Konstanz – Alois Reichgruber wurde in Unterwössen im Kreis Traunstein vom Dorfpfarrer T. missbraucht. 15 Jahre war er alt. 1959, bei einem Skiausflug in Südtirol, passiert es. Der Pfarrer ist mit der Dorfjugend unterwegs, wird zudringlich. Reichgruber muss den Geistlichen befriedigen. Und er erinnert sich bis heute ganz genau daran, wie ihn der Gottesmann unter Druck setzt. „Bei dir regt sich ja nichts. Die Mädchen lachen dich ja aus“, lästert der Geistliche. Es sei „zwischen Männern normal und nichts dabei“.

Es bleibt nicht beim Übergriff im Skilager. Im darauffolgenden Sommer muss der junge Fotografenlehrling für seinen Meister Dias an den damals 50 Jahre alten Pfarrer liefern. Alois wird zum Mittagessen eingeladen, eine Absage wäre undenkbar gewesen im Unterwössen des Jahres 1959. Der Pfarrer zwingt ihn zu ähnlichen sexuellen Handlungen wie im Winter. Es wiederholt sich noch einige Male in den folgenden Wochen und Monaten.

Alois erlebt noch etwas anderes: die Macht des Schweigens, der Unsicherheit, der Angst. Dabei ist er nicht allein: „Wir waren so an die zehn Jungs im gleichen Alter, die vom Pfarrer gezwungen wurden.“ Sie sprechen untereinander über das, was im Pfarrhaus läuft. Aber: Nicht seinen Eltern, nicht seinen Lehrern, niemandem kann Alois sich wirklich anvertrauen. Denn der Pfarrer gilt als unangreifbare Autorität, ist beliebt und Schützenkönig. Er baut das örtliche Laientheater wieder auf und erweitert die Kirche. Davon spricht man im Dorf.

Dass der Gottesmann nicht freiwillig da ist, ist kein Thema. Erst viel später erfährt Alois, dass der Geistliche zwangsversetzt ist, weil er sich wohl an Buben vergangen hatte. Die Kirche verschweigt die Vorgänge. Die Übergriffe haben irgendwann ein Ende, doch es dauert Jahre, bis Reichgruber nochmals darüber redet. Da ist er 19, mit einem Kumpel im Urlaub, die Vorkommnisse gelangen an die Öffentlichkeit. Denn der Kumpel hat nichts Besseres zu tun, als den Pfarrer um Geld zu erpressen. Das lässt sich dieser nicht gefallen, geht zur Polizei. Und muss sein sexuelles Fehlverhalten eingestehen.

Für Alois beginnt die bitterste Episode. Die Polizei ermittelt. Reichgruber wird vernommen – wie ein einziger Freund, der sich ebenfalls traut, die Wahrheit zu sagen. Alois wird angeklagt. Aus dem Opfer macht die Justiz einen Täter: „Unzucht zwischen Männern“ lautet der Vorwurf. Alois und sein Freund werden bezichtigt, „sich fortgesetzt von einem Mann zur Unzucht missbraucht haben zu lassen“. Zu einer Verhandlung kommt es nie. Am 14. März 1964 steht die Polizei vor dem Elternhaus und führt ihn ab. In Übersee wird er in eine Zelle gesperrt, muss auf dem blanken Boden schlafen, erhält eine Rossdecke, Malzkaffee, trockenes Brot. Nach drei Tagen kann er gehen. Warum sie ihn einsperren, sagen die Polizisten nicht. Er kommt zu einer bestürzenden Erkenntnis: „Justiz und Klerus haben damals zusammengeschirrt.“

Alois und seine Eltern werden im Dorf geschnitten, in den Läden nicht mehr bedient, der Vater geht nicht mehr ins Wirtshaus. Leute rufen ihm zu: „Dein Bub hat unsern Pfarrer verführt.“ Irgendwann muss der Dorfpfarrer Unterwössen verlassen. Sein Interimsnachfolger, wird Alois berichtet, habe von der Kanzel gepredigt, dass ein junger Mann den Pfarrer aus dem Ort vertrieben habe. Wieder wird eine Tatsache verdreht. Alois zieht weg. Als er zwei Jahre später seinen Onkel besucht, begrüßt ihn der mit den Worten: „Der Verbrecher kehrt an den Tatort zurück.“ Irgendwann schreibt ihm der Pfarrer. Eineinhalb Seiten, Schreibmaschine. Er zeigt keine Reue. Als 2010 Deutschland endlich über die Missbrauchsfälle redet, wendet er sich an seine Kirche. Er hat Belege für alles, lückenlos. Ein Missbrauch, ein Versagen der Kirche, ein Justizskandal. Schließlich lädt die Deutsche Bischofskonferenz Reichgruber nach Erfurt ein, zum Papst.

Mit vier weiteren Missbrauchsopfern trifft er das Kirchenoberhaupt. „Bestimmt eine Minute lang hat mir der Heilige Vater die Hand gehalten und sich für das Vergehen des Pfarrers entschuldigt“, erzählt Reichgruber. Der Papst sei sehr bewegt gewesen und habe um Verzeihung gebeten. Für Alois Reichgruber ist im Priesterseminar von Erfurt eine Geschichte zu Ende gegangen, er nahm die Entschuldigung an. Das Opfer, das zum Täter gemacht wurde, sagt: „Ich trage jetzt viel leichter daran.“ SERGEI SCHUTZBACH

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