Putins fürchterliche Drohung an Europa

von Redaktion

Kiew – Es ist 4.30 Uhr, als in der Ferne die ersten Explosionen am Nachthimmel von Kiew zu sehen sind. Der erste Angriff auf die ukrainische Hauptstadt seit dem Zweiten Weltkrieg hat begonnen. Bei Tagesanbruch heulen aus allen Lautsprechern die Sirenen und warnen vor russischen Angriffen. Nach dem panischen Erwachen stehen die Menschen am Donnerstag auf den Balkonen, besorgt und voller Fragen.

„Ich wurde vom Lärm der Bomben geweckt, habe meine Taschen gepackt und bin weggerannt“, sagt Maria Kaschkoska. Nun kauert die 29-Jährige mit vielen anderen in einer U-Bahn-Station auf dem Boden, der Schock ist ihr anzusehen. Unter der Erde hofft sie, sicher zu sein. „Wir sitzen hier und warten“, sagt Kaschkoska. „Vorbereitet auf alle Eventualitäten.“

Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch niemand genau weiß, was passiert, machen sich die Hauptstädter auf den Weg. Raus aus der Stadt, so schnell es geht. Vor den Geldwechselstuben bilden sich Warteschlangen, Menschen schleppen Koffer zu Bus- und Bahnhöfen. Autos voller Familien rasen stadtauswärts, aufs Land oder Richtung Westen, so weit weg wie möglich von der russischen Grenze.

Russlands Oberkommandierender Wladimir Putin, 69, hat mit einer beispiellosen Kriegserklärung an die Ukraine eine weltweite Schockwelle ausgelöst. Per Ansprache im Staatsfernsehen im Morgengrauen setzt er sein Militär in Bewegung, um die Ukraine zu überfallen. Der Kremlchef steht im Anzug vor der Kamera und droht mit eisigem Blick, niemand solle es wagen, jetzt Russland anzugreifen. Wer das versuche, werde scheitern samt fürchterlicher Folgen – eine brutale Drohung in Richtung Europa: „Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für unser Land und unser Volk zu schaffen, muss wissen, dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben“, sagt Putin. Und er verweist auf etwas, womit Russlands Präsidenten selten offen drohen: Russland sei heute eine „der mächtigsten Nuklearmächte der Welt“.

Es ist ein historischer Moment. Putin bricht vor der Weltöffentlichkeit endgültig mit dem Westen – und kaum ein Ort in der Ukraine scheint plötzlich mehr sicher zu sein.

In den ersten Stunden des russischen Großangriffs werden nach Angaben Kiews mehr als 40 ukrainische Soldaten und etwa zehn Zivilisten getötet. Später werden bei einem Luftangriff auf eine Militärbasis weitere 18 Menschen getötet. Die ukrainische Armee erklärt ihrerseits, sie habe in der Ostukraine rund „50 russische Besatzer“ getötet. Zudem meldet die Armee den Abschuss von sechs russischen Militärflugzeugen, einem Hubschrauber und die Zerstörung von vier Panzern.

Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150 000 Soldaten um die Ukraine zusammengezogen. Nach Nato-Angaben gibt es zudem 30 000 russische Soldaten im Nachbarland Belarus. Es ist ein orchestrierter Großangriff, der an diesem Morgen beginnt. In Odessa, der Küstenstadt am Schwarzen Meer, heulen alle 15 Minuten die Sirenen. Selbst in Lemberg, der Stadt ganz im Westen, wohin die USA und andere Länder kürzlich ihr Botschaftspersonal verlegt haben, warnen die Sirenen vor Luftangriffen.

„Bewahren Sie Ruhe! Wenn möglich, bleiben Sie zu Hause“, wendet sich der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow via Twitter an die Bevölkerung. „Die Situation ist unter Kontrolle. Ihre Gelassenheit und Ihr Vertrauen in die ukrainischen Streitkräfte sind derzeit die beste Hilfe.“ Bis zuletzt hatten viele Ukrainer nicht geglaubt, dass der russische Präsident tatsächlich ihr ganzes Land angreifen würde.

In Tschuhujiw im Osten der Ukraine sitzt ein Mann weinend auf dem Boden. Vor der Leiche seines Vaters, der bei einem Bombenangriff getötet wurde. „Ich habe ihm gesagt, dass er gehen soll“, sagt der Mann schluchzend. Tschuhujiw liegt 30 Kilometer von Charkiw entfernt, der zweitgrößten Metropole der Ukraine. „Wir sind heute Morgen um fünf Uhr von Explosionen aufgewacht“, sagt eine 56-jährige Krankenpflegerin. Sie lebt am Stadtrand, bis zur russischen Grenze sind es 40 Kilometer. „Wer ein Auto hat, packt seine Sachen, es gibt große Staus auf den Straßen“, erzählt die Pflegerin. Ihre Familie hat kein Auto. Es sollen auch Züge fahren, hat sie gehört. Doch will sie weg? Sie überlegt noch. „Dies ist doch mein Heimatboden“, sagt sie unter Tränen. „Wohin soll ich denn gehen?“

Die russische Armee erklärt am Donnerstag, sie habe die ukrainische Luftabwehr zerstört. Die Ukraine meldet, russische Fallschirmjäger hätten einen Militärflugplatz bei Kiew eingenommen. Auch Bodentruppen marschieren ein. Sie dringen von Belarus im Norden sowie von Süden und Osten in die Ukraine vor.

Am Abend teilt Kiew mit, russische Streitkräfte hätten das Gebiet um den 1986 havarierten Atomreaktor von Tschernobyl eingenommen. Nachmittags hatte der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj auf Twitter geschrieben, die ukrainischen Soldaten in Tschernobyl gäben „ihr Leben“, um eine „Tragödie wie 1986“ zu verhindern. Er wollte offenbar davor warnen, dass ein russischer Beschuss große Mengen Radioaktivität freisetzen könnte. Erst im vergangenen Sommer wurde ein neues Atommüllzwischenlager in der bis heute verstrahlten Sperrzone um Tschernobyl in Betrieb genommen.

Präsident Selenskyj ruft am späten Donnerstagabend zur Generalmobilmachung auf. Männer unter 60 dürfen das land nicht verlassen. Zivilisten üben seit Tagen im ganzen Land das Schießen, um das Heimatland selbst verteidigen zu können. „Wenn sie uns weiter bombardieren, werde ich Waffen finden und mein Vaterland verteidigen, auch wenn ich schon 62 Jahre alt bin“, sagt Wladimir Lewaschow aus Tschuhujiw. „Die Russen sind einfach Halsabschneider.“  dpa/afp/sts

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