München/Kiew – Es sind Bilder, die einem Schauer über den Rücken jagen. Kurze Videos, aufgenommen von Soldaten und Zivilisten. Wie immer in solchen Fällen lassen sie sich nicht abschließend verifizieren. In den Videos sind ausgebrannte Panzer und Militärfahrzeuge zu sehen, auch Leichen von Soldaten. Ein Handyvideo aus Kiew dokumentiert heftige Feuergefechte. Wie Blitze jagen die Geschosse in der Nacht zwischen Wohnhäusern umher. In einem anderen Video verhört eine ukrainische Einheit einen russischen Gefangenen. Die nackte Angst steht in seinem Gesicht.
In Kiew kämpfen jetzt auch Freiwillige
Die militärische Lage ist unübersichtlich, gesicherte Informationen sind rar. Nach ukrainischen Angaben gab es in der zweitgrößten Stadt Charkiw im Osten der Ukraine Straßenkämpfe. Die Angreifer seien ins Zentrum der Stadt mit etwa 1,5 Millionen Einwohnern gelangt. Gouverneur Oleg Sinegubow erklärte am Sonntag, man habe die Angreifer zurückgedrängt, Charkiw sei wieder „vollständig“ unter ukrainischer Kontrolle. Bei Charkiw stehe eine Gasleitung in Flammen. Bislang sind nach Angaben Kiews mindestens 210 Zivilisten getötet worden.
In Kiew kommt es Berichten zufolge vermehrt zu heftigen Straßenkämpfen. Aber die Hauptstadt soll noch unter Kontrolle der Verteidiger sein. „Kiew ist nicht komplett eingekesselt. Die ukrainische Armee kämpft hart in den Außenbezirken, und die russische Armee hat viele Verluste“, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko am Sonntagabend der „Bild“. Die Menschen harren in Kellern und Schutzbunkern aus, zum Beispiel Julia Snitko. Die 32-Jährige ist hochschwanger und hatte bei jeder Explosion Angst, dass die Wehen einsetzen könnten. „In der Nacht gab es mehr als eine Stunde lang riesige Explosionen, das war sehr anstrengend“, sagt sie. Auf den Straßen Kiews sind neben regulären Soldaten auch Freiwillige der „territorialen Verteidigung“ zu sehen. Sie tragen Jeans, Jogginghosen, Turnschuhe – und als Erkennungszeichen eine kleine gelbe Armbinde, manchmal auch nur einen Streifen Klebeband um den linken Arm. Auf einem Parkplatz schwingt ein 51-jähriger Informatiker, der sich „Kommandeur Bob“ nennt, frustriert sein Sturmgewehr. „Das reicht nicht, um Hubschrauber zu stoppen, auch gegen Panzer kann es nichts ausrichten“, sagt er. Die internationale Gemeinschaft müsse sein Land mit Waffen ausrüsten: „Wir müssen Moskau aufhalten, wir müssen diesen Feind aufhalten.“ Auch der 47-jährige Gleitschirm-Fluglehrer Roman Bonderzew macht sich wenig Illusionen. „Ich habe bis heute noch nie eine Waffe in die Hand genommen“, sagt er. „Aber was sollen wir machen? Wir werden unser Bestes versuchen.“ Sein Waffenkamerad Ruslan Bizman hat ebenfalls noch „nie gedient“. Doch der Mechaniker ist wütend entschlossen: „Es ist mein Land – mein Land, verstehen Sie?“
Nach Angaben örtlicher Medien wurde in Kiew in der Nacht zum Sonntag ein Lager mit radioaktivem Abfall von russischen Granaten getroffen. Gebäude und Container seien intakt, wird ein Sprecher des Rettungsdienstes zitiert. Es bestehe keine Gefahr.
Ukraine: 4300 Russen bisher gefallen
Der ukrainische Generalstab erklärte, das Tempo des russischen Angriffs sei gebremst worden. Der Feind habe Nachschubprobleme, Soldaten seien erschöpft, die Truppe dezimiert. Bisher seien geschätzt 4300 Soldaten getötet worden, schrieb Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar bei Facebook. Dutzende Flugzeuge und Hubschrauber, hunderte Panzer und weitere Militärfahrzeuge sollen zerstört worden sein.
Russland konterte mit eigenen Erfolgsmeldungen. Präsident Wladimir Putin lobte seine Streitkräfte, das Verteidigungsministerium meldete, 471 ukrainische Soldaten seien gefangen genommen worden. Ukrainer hätten massenhaft den Kampf verweigert. Russland gibt an, seit Donnerstagmorgen 975 militärische Objekte zerstört zu haben – Fluggeräte, Panzer und andere Kampffahrzeuge. Die südukrainischen Städte Cherson und Berdjansk seien umzingelt. Im Donbass hätten die Separatisten ihren Vormarsch fortgesetzt. Moskau räumte gestern erstmals Tote und Verletzte in den eigenen Reihen ein, nannte aber keine Zahlen. Großbritannien hatte jüngst den Verdacht geäußert, Russland könne mobile Krematorien einsetzen, um eigene Verluste zu vertuschen. Bestätigte Hinweise darauf gibt es aber bisher keine.