Unterschleißheim – Alesia Shalaieva schaut mit großer Sorge nach Charkiw. Ihre Eltern Igor (59), Olga (54) und ihre Oma Valentina (70) leben dort. Die Stadt wird von russischen Truppen bombardiert. Seit gestern ist ihre Familie auf der Flucht. „Die Chancen stehen 50:50, dass sie es schaffen“, sagt die 34-Jährige aus Unterschleißheim im Kreis München und bricht in Tränen aus.
Seit Montag ist die zweitgrößte ukrainische Stadt eines der Hauptziele des russischen Militärs. Es ist die Heimat von Alesia Shalaievas Familie. Ihre Eltern haben dort studiert, leben seit Jahren in der ostukrainischen Stadt. Alesia Shalaieva lebt seit sieben Jahren in Deutschland. Sie und ihr Mann arbeiten als Ingenieure in der IT-Branche. Seit Tagen verfolgt sie die Nachrichten minütlich, telefoniert täglich mit ihren Eltern und ist rund um die Uhr erreichbar. Über soziale Medien und von Freunden und natürlich von der Familie erreichen sie täglich Fotos von zerstörten Straßen, Häusern und verletzten Menschen. Sie sagt, es sei schmerzhaft, diese Bilder ihrer zerstörten Heimat zu sehen.
Von ihren Eltern hört sie, dass die russischen Ziele längst nicht mehr auf militärische Stützpunkte begrenzt sind. Sie würden vor allem Bereiche treffen, in denen die Zivilbevölkerung wohne, sagt sie. „Das ist ein Genozid Russlands an der ukrainischen Bevölkerung. Alle haben furchtbare Angst.“
Alesia Shalaieva erzählt von einem Waisenhaus in der Straße, in der auch ihre Eltern leben. „Die Kinder leben seit Tagen im Keller. Es gibt keine Versorgung – nicht einmal Kleinigkeiten wie Windeln. Es ist furchtbar.“
Ihr Vater und ihre Mutter wollen Charkiw mit der Großmutter verlassen. Gestern haben sich die drei mit einem Auto auf den Weg gemacht. Ziel ist Dnipro im Südosten der Ukraine. Die Stadt liegt gut 200 Kilometer von Charkiw entfernt. „Sie konnten noch eine junge Frau mit ihrem Kind mitnehmen.“
Nach Deutschland will ihre Familie nicht. „Die Ukraine ist die Heimat meiner Eltern und meiner Großmutter.“ Der 59-jährige Vater Igor dürfte die Ukraine aufgrund der aktuellen Regel sowieso nicht verlassen. Männer zwischen 18 und 60 müssen dort bleiben.
Von Deutschland aus kann Alesia Shalaieva nur hoffen, dass ihren Eltern nichts passiert und sie in Dnipro erst einmal in Sicherheit sind. Um etwas gegen das Gefühl der Machtlosigkeit zu tun, sammelt sie Spenden wie Nahrung, Hygieneartikel und medizinische Versorgungsprodukte und unterstützt Hilfsorganisationen. „Ich versuche so die Menschen zu unterstützen, die es über die Grenze geschafft haben.“
Irgendwann wollten Alesia Shalaieva und ihr Mann wieder zurück in die Ukraine. Irgendwann sollte ihr Sohn Maximilian die Ukraine kennenlernen. Doch jetzt hat sich alles geändert. „Ich habe keine Heimat mehr“, sagt die Ingenieurin aus Unterschleißheim. „Wir können nicht zurück.“ ALEXANDRA PÖHLER