Kiew droht die Belagerung

von Redaktion

VON DPA, AFP, W. HAUSKRECHT

Kiew/München – 8.01 Uhr zeigt die Aufnahme der Sicherheitskamera, gerichtet auf die Stadtverwaltung der zweitgrößten Stadt der Ukraine, Charkiw. Vor und neben dem Gebäude fahren gerade vier Autos – als aus dem Nichts eine Rakete einschlägt. Ein riesiger Feuerball steigt auf, Teile fliegen durch die Luft. „Was für ein Wahnsinn“, kommentieren Ukrainer in sozialen Medien. Ausgerechnet Charkiw, die Stadt an der russischen Grenze, in der praktisch jeder Verwandte oder enge Freunde in Russland habe. Mindestens zehn Menschen sollen getötet worden sein. Am späten Nachmittag schlagen Raketen auf dem Areal des Fernsehturms in Kiew ein. Er hält stand, es soll aber fünf Tote geben.

Für Beobachter ist es ein weiteres Zeichen, dass Präsident Wladimir Putin zu noch brutaleren Mitteln greift. Eine schnelle Eroberung des Landes mit anschließender Kapitulation ist gescheitert. Alle großen Städte stehen weiter unter ukrainischer Kontrolle. Putin sucht die Flucht nach vorne, schickt weitere massive Kräfte.

Sein Außenminister Sergej Lawrow erhob gestern in einer Videozuschaltung vor der Ständigen Abrüstungskonferenz in Genf die bekannten Vorwürfe. Die Ukraine sei eine Gefahr für Russland. Zeichen der Entspannung suchte man vergeblich. Satellitenbilder zeigten stattdessen einen mehr als 64 Kilometer langen russischen Militärkonvoi in der Nähe von Kiew. Es dürfte der Beginn einer russischen Großoffensive sein – womöglich unterstützt aus Belarus. Nach Angaben der Regierung in Kiew sollen weißrussische Soldaten die Grenze überschritten haben, was Belarus gestern bestritt.

Der Druck auf die wichtigsten Städte der Ukraine wächst. Der Gouverneur der Region um Charkiw, Oleg Sinegubow, warf Russland vor, „weiterhin schwere Waffen gegen die Zivilbevölkerung“ einzusetzen. Russische Panzer seien überall in der Stadt Charkiw zu sehen, sagte der Bürgermeister Ihor Terechow laut ukrainischen Medien.

Gefechte und Bombenangriffe wurden auch aus mehreren Städten im Süden gemeldet. Ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums sagte, die Streitkräfte hätten die Kontrolle über die Regionen entlang der Küste des Asowschen Meeres übernommen. Von der annektierten Krim-Halbinsel die Küste entlang vorrückende Streitkräfte seien bis zu den Truppen der pro-russischen Separatisten aus Donezk vorgestoßen. Am Asowschen Meer liegen mehrere wichtige Großstädte, darunter die strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol. Nach einer Offensive war dort am Dienstagmorgen die Stromversorgung ausgefallen. Eduard Bassurin, Kommandeur der separatistischen Kräfte aus Donezk, erklärte, sein Ziel sei es, Mariupol „vollständig“ einzukreisen. Die Stadt Wolnowacha, eine Autostunde nördlich, sei am Dienstag weitgehend „zerstört“ worden, sagte der ukrainische Gouverneur der Region Donezk, Pawlo Kirilenko. Die südukrainische Metropole Cherson an der Mündung des Flusses Dnipro ist örtlichen Berichten nach bereits eingekesselt und steht kurz vor dem Sturm.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach in einer Videobotschaft auf Telegram von „Kriegsverbrechen“ und „Staatsterrorismus“. Und er bereitet Kiew auf eine Belagerung vor. Gestern setzte er einen Militärkommandanten ein, General Mykola Schyrnow (55). „Der Feind will das Herz unseres Landes erobern“, sagte Bürgermeister Vitali Klitschko. Kiew verstärkt die Barrikaden, es seien immer mehr Straßenkontrollen, Sandsäcke oder Panzersperren zu sehen, berichten Bewohner.

Der Wille der Ukrainer scheint ungebrochen. Außenminister Dmytro Kuleba sagte, Putin müsse in der Ukraine gestoppt werden, sonst seien seine nächsten Ziele Nato-Staaten. Der Kampf der Ukraine sei deshalb auch ein Kampf des Westens. „Wir müssen gewinnen.“ Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, betonte im deutschen Fernsehen, die Menschen würden so lange kämpfen wie möglich. „Putin hat sich überschätzt. Dieser Krieg ist für ihn schon lange verloren, und das weiß er“, glaubt Melnyk. „Russland ist ein Koloss auf tönernen Füßen und Russland wird sein Stalingrad in der Ukraine finden.“

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