Das Dorf, in dem 820 000 Flüchtlinge strandeten

von Redaktion

VON KATHRIN BRAUN

Dorohusk – Weit kann Marinas Mann noch nicht sein. Gerade eben erst hat sich die Ukrainerin von ihm verabschiedet. Jetzt trennt sie der Krieg. Marina, 33, steht mit ihrem zweijährigen Sohn Wadim am Grenzübergang im polnischen Dorohusk. Sie kommen aus einem Dorf in der Nähe von Kiew. „Gestern früh ist in der Nähe unseres Hauses eine Rakete eingeschlagen. Zum Glück versteht der Kleine noch nichts von alldem“, sagt Marina und nimmt ihren Sohn auf den Arm. „Trotzdem will er nicht aufhören zu weinen.“

Eine ältere Frau auf Krücken humpelt zu einem Stand mit Äpfeln, Keksen und Wasser. Frauen in Wintermänteln und Kinder mit bunten Rucksäcken stehen am Rand der Grenzanlage und trinken heißen Tee aus Pappbechern. Dann kommt eine Gruppe von Unions-Politikern auf sie zu. Wie es ihnen geht, wollen sie wissen.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ist mit einer Delegation nach Polen gereist. Auch Paul Ziemiak, Ex-Generalsekretär der CDU mit polnischen Wurzeln, ist mitgekommen. Sie wollen sich ein Bild von der Lage an der Grenze machen, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Schon jetzt hat Polen mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland im Jahr 2015.

„Warum sind Sie erst jetzt geflohen?“, fragt Dobrindt eine der Frauen, die bis zuletzt im Kriegschaos ausharrte. Es ist Tag 18 des russischen Angriffs auf die Ukraine. „Ich komme aus Kiew“, sagt sie. „Wir haben gehofft, dass der Krieg nicht bis zu uns kommt.“ Doch mittlerweile sollen die russischen Truppen nur noch wenige Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt entfernt sein.

Ein paar Meter weiter wurde eine Windelstation aufgebaut. Oliver, 53, ist als freiwilliger Helfer aus Deutschland seit Tag Zwei hier. Zu ihm kommen fast nur Mütter mit ihren Babys. „Es gibt schöne Momente, traurige Momente und Momente, in denen man sich einfach nur in den Armen liegt“, sagt er. „Die Eltern versuchen, für ihre Kinder ihre Emotionen zu halten. Aber man sieht auch oft die Dämme brechen.“

Es ist Mittag. Noch ist nicht viel los in der Grenzanlage. „Es wird gegen Abend mehr“, sagt Oliver. In der Ukraine herrscht jede Nacht Ausgangssperre. Wer nach Polen fliehen will, kommt deshalb oft erst spät über die Grenze.

Auf dem Gelände wartet ein Bus. Eine Ukrainerin möchte vor ihrer Abfahrt über ihre Erlebnisse sprechen. Aber dann fällt es ihr zu schwer. „Ich will von den schrecklichen Dingen in der Ukraine erzählen, aber ich kann nicht. Das ist keine Krise, kein Krieg, es ist ein Genozid“, sagt sie. Dann steigt sie ein.

Fast 1,8 Millionen Ukrainer sind bislang nach Polen geflohen. Bis Sonntag sind allein 820 000 Menschen über die Grenze bei Dorohusk angekommen, sagt Oberstleutnant Slawomir Gontarz, Kommandeur des Grenzschutzes. „Wir haben in den vergangenen Wochen ein spezielles System entwickelt, um so viele Menschen wie möglich aufnehmen zu können.“ Vor Ausbruch des Krieges durften nur Autos und Lkws die Grenze passieren, jetzt gibt es einen großen Korridor für Fußgänger. Wer ankommt, bekommt zuerst medizinische Versorgung, Lebensmittel, SIM-Karten und einen Platz zum Schlafen angeboten. Man versuche, die Flüchtlinge in Hotels und Studentenwohnheimen unterzubringen. „Flüchtlingslager vermeiden wir noch“, sagt Gontarz. „Aber wenn noch mehrere Millionen Menschen kommen, dann haben wir keine andere Wahl.“

Wenige Kilometer von der Grenzanlage haben sie eine Turnhalle zur Notunterkunft umfunktioniert. Dort werden Flüchtlinge registriert. Zwischen dutzenden Feldbetten spielen Kinder mit Kuscheltieren. Dobrindt setzt sich zu einer Mutter und ihrem Sohn. Sie sind am Tag zuvor in Polen angekommen und haben die erste Nacht in dem Lager verbracht. „Wissen Sie, wie es jetzt weitergeht?“, fragt der CSU-Politiker. „Haben Sie Angehörige in Polen?“ Sie schüttelt den Kopf.

Viele Ukrainer fliehen weiter nach Deutschland. Das Innenministerium in Berlin zeigte sich gestern überrascht von der hohen Zahl: 146 000 Menschen seien mittlerweile angekommen. Und es werden mehr. Polen habe in einer „sehr kurzen Zeit schnell und stringent gehandelt“, sagt Dobrindt. „Auch Westeuropa muss jetzt seinen Teil der Verantwortung übernehmen.“ Zum einen müsse man Polen finanziell weiter unterstützen. Aber auch hierzulande müsse man für eine unkomplizierte Aufnahme sorgen – dazu gehöre auch eine Registrierungspflicht und eine schnelle Arbeitserlaubnis. Polen mache das bislang „vorbildlich“. Kommandeur Gontarz verspricht, dass das so bleibt. „Wie lange, hängt aber von Putin ab.“

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