Die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa hat sich nach ihrem Protest bei Freunden in Moskau versteckt. Sie habe große Angst, sagte die 43-Jährige dem Spiegel. Sie nehme Beruhigungsmittel. „Ich bin jetzt der Feind Nummer eins hier. Es kann alles passieren, ein Autounfall, alles, was die wollen, dessen bin ich mir bewusst.“ Die Journalistin hatte am Montagabend in einer Live-Sendung der Hauptnachrichten im russischen Staatsfernsehen ein Schild mit der Aufschrift „Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen“ in die Kamera gehalten. Die Mitarbeiterin des Senders rief dazu mehrmals „Nein zum Krieg“.
Ihr Sohn habe ihr vorgeworfen, sie habe das Leben der gesamten Familie zerstört, sagte Owsjannikowa. „Meine Familie unterstützt mich nicht richtig. Meine Mutter ist immer noch schockiert, sie ist vollkommen erschöpft.“ Russland zu verlassen, komme aber nicht infrage. Neben ihrem Sohn hat die Redakteurin eine elfjährige Tochter. „Wir werden in Russland bleiben, hier leben.“ Ein Asylangebot Frankreichs habe sie abgelehnt, sagte Owsjannikowa.
Owsjannikowa arbeitete im Bereich Auslandsnachrichten. Sie habe dort die Bilder aus der Ukraine der internationalen Agenturen gesehen – die sie aber in Russland nicht zeigen durften. „Die Arbeit wurde zu einer schweren Last.“ Die meisten Menschen, die im Staatsfernsehen arbeiten, wüssten nur allzu gut, dass sie etwas Falsches machen. „Sie sind keine überzeugten Propagandisten, oft alles andere als das! Sie wissen, dass der Erste Kanal lügt, viele der Staatssender lügen.“ Aber die Kollegen müssten ihre Familie ernähren, „wissen, dass sie im derzeitigen politischen Klima keinen anderen Job finden werden“.
Trotzdem würden jetzt etliche kündigen, auch in Russland prominente Journalisten wie die Moderatorin der abendlichen Nachrichtensendung „Segodnja“ (Heute) des zum Gasprom-Konzern gehörenden Senders NTW, Lilia Gildejewa. „Ich habe Russland zuerst verlassen, weil ich Angst hatte, dass sie mich nicht einfach so gehen lassen würden, und dann meine Kündigung eingereicht“, sagte Gildejewa dem prominenten Blogger Ilja Warlamow.
Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) empfiehlt Marina Owsjannikowa für den mit 50 000 Euro dotierten Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. KLAUS RIMPEL