Das Rätsel um die Morde von Hinterkaifeck

von Redaktion

Vor 100 Jahren starben im Donaumoos sechs Menschen auf einem Einödhof – aber wer war der Täter?

VON DIRK WALTER

Gröbern – Für einen Tatort sieht es hier recht unspektakulär aus. Autor Peter Leuschner steht auf einem Feldweg. Zu seiner Linken ist brauner Acker, 50 Meter weiter beginnt ein Waldstück, das Hexenhölzl. Auf der anderen Seite wächst unter Planen schon der Spargel. In der Ferne hört man Fluglärm vom Militärflugplatz.

Nur ein Feldkreuz unter einer hohen Fichte 50 Meter weiter weist darauf hin, dass hier an ziemlich einsamer Stelle im Donaumoos vor 100 Jahren ein grausamer Mordfall stattfand. „Gottloser Mörderhand“, so heißt es auf dem Marterl, „fiel am 31. März 1922 die Familie Gabriel Gruber von hier zum Opfer.“ Und dann sind die Toten aufgezählt: die Landwirtsfrau Cäcilia Gruber, damals 72, ihr neun Jahre jüngerer Ehemann Andreas, ferner die Tochter Victoria (35) und deren Kinder Cäcilia (7) und Josef (2) sowie die Magd Maria Baumgartner (45). Der Mordfall auf dem Einödhof Hinterkaifeck ist berühmt-berüchtigt. Es ist ein bayerischer Cold Case, ein ungelöster Kriminalfall, der bis heute, 100 Jahre nach dem Verbrechen, Spekulationen auslöst.

Es gibt etliche bayerische Kriminalfälle, die nie aufgeklärt wurden – aber dass die Polizei den Täter eines Sechsfach-Mordes nicht überführen konnte, ist doch selten. Und so machen sich – bis heute – ganze Kolonnen vermeintlicher Hinterkaifeck-Ermittler auf eigene Faust auf ins Donaumoos. Es gibt Hinterkaifeck-Fanseiten im Internet, auf Youtube jagen sogenannte Geisterjäger dem nie ermittelten Mörder hinterher. Sogar die Polizeischule in Fürstenfeldbruck hat – zu Ausbildungszwecken – vor einigen Jahren eine Ermittlungsgruppe gebildet und alles, was zum Fall bekannt ist, systematisch dargestellt. Ein bisschen was vom Geschäft will auch das Gasthaus im nahen Waidhofen abhaben – es bietet Fackelwanderungen nach Hinterkaifeck an mit anschließendem Vier-Gänge-Menü. Es gibt noch freie Termine, nur an der Jubiläums-Mordnacht selbst ist die Führung schon ausgebucht.

Der Fall hat aber auch alles, was Grusel auslöst: Es gab Inzest unter den Opfern – der Altbauer wurde wegen „Blutschande“ mit seiner Tochter sogar verurteilt. Es gab unglaubliche Zufälle – die ermordete Magd war erst am Nachmittag der vermutlichen Mordnacht angereist. Und das Mordwerkzeug war nicht etwa ein Messer oder eine Pistole, sondern eine sogenannte Reuthaue, ein Hackwerkzeug für Waldarbeiten. Der Täter hieb so fest auf die Schädel seiner Opfer, dass sich eine herausstehende Schraube in den Knochen abzeichnete. Die Mordwaffe, die 1944 in der Asservatenkammer des Landgerichts Augsburg nach einem Luftangriff verbrannte, hat ein Kripo-Beamter später rekonstruiert – und nachgebaut.

Der, der die ganze Mörderjagd mit seinen Büchern ausgelöst hat, steht in abgewetzter Lederjacke auf dem Feldweg, der heute malerisch als Kapellenwanderweg firmiert, und beteuert seine Unschuld. Also ihn interessiere der ganze Rummel gar nicht mehr, sagt Peter Leuschner, 74, Autor dreier Bücher über den Fall. Dort, wo er steht, war einmal der Einödhof. Er wurde ein Jahr nach dem Sechsfachmord abgerissen. Heute ist der Acker verpachtet – zuletzt blühten dort Sonnenblumen.

Rückblick: Als junger Journalist las Leuschner Anfang der 1970er-Jahre eine Serie im Donaukurier über Hinterkaifeck. Eigentlich hatte er ganz was anderes im Kopf. Mit seiner Ehefrau Helga und seinen Schwiegereltern hatte er für 250 000 Mark das baufällige Schloss Hofstetten, einst barocker Jagdsitz der Eichstätter Fürstbischöfe, gekauft und stand nun vor der Riesenaufgabe einer Rundum-Sanierung. Aber Hinterkaifeck machte doch neugierig. Über Leuschners Schreibtisch bei der tz liefen damals viele Verbrechen – in Erinnerung bleibt ihm zum Beispiel der Mord an der Anhalterin Cornelia Lakèl, den er 1987 bis zur Verurteilung der Mörder im Gerichtssaal journalistisch begleitete. Für seine Ermittlungen im Fall Hinterkaifeck musste Leuschner jedoch nicht ins Gericht gehen – sondern ins Archiv.

Im Staatsarchiv München werden die Ermittlungsakten der Polizei aufbewahrt. 1975 begann der Hinterkaifeck-Jäger Leuschner seine Arbeit. So rein historisch war das nicht, gibt er heute zu. „Ja klar hatte ich die Idee, dass ich auf was stoße, was andere übersehen haben.“ Er sei manchmal ganz aufgeregt gewesen, wenn er die Schnürbänder von den verstaubten Akten löste. Leuschner las sich ein, fragte nach und zeichnete die damaligen Ermittlungen minutiös nach.

Fest steht, dass die damalige Polizei überfordert war und etliche Fehler machte. Dabei war von München aus eigentlich ein erfahrener Kriminaler geschickt worden: Georg Reingruber, damals 55, hatte allerdings auch etliche andere Fälle am Hals, darunter einen aufsehenerregenden Fememord an der Dienstmagd Maria Sandmaier aus dem Dachauer Land. Die junge Frau war mit einem Strick um den Hals und einem martialischen Schild („gemordet von der schwarzen Hand“) im Forstenrieder Park gefunden worden.

Die Ermittlungen stockten. Und jetzt klingelte nach neun Uhr abends bei Reingruber auch noch ein Schutzmann und informierte über einen neuen Mordfall: Drei Landwirte aus dem Dorf Gröbern, 300 Meter vom Einödhof Hinterkaifeck entfernt, hatten spätnachmittags sechs Leichen entdeckt. Schauerlich zugerichtet, mit kräftigen Hieben auf den Kopf erschlagen. Vier Leichen lagen mit Stroh zugedeckt im Stall. Überall Blutspritzer. Den kleinen Josef, den zwei Jahre alte Buben, fanden die drei Bauern im Kinderwagen – der Täter hatte noch hastig ein Kleid über die Leiche geworfen. Die Magd lag zugedeckt mit einem Federbett in ihrer Kammer – erschlagen.

Reingruber musste hinaus ins Donaumoos. Das war damals nicht so einfach. Einen eigenen Pkw bekamen die Münchner Mordermittler erst 1927 – 1922 musste erst umständlich ein Wagen angefordert werden. Bis Reingruber mit Kollegen in Hinterkaifeck eintraf, war es halb zwei Uhr morgens.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Mord schon in der Gegend rumgesprochen. Leuschner sagt: „Die Gendarmerie hat es damals nicht geschafft, den Hof abzusperren.“ Das war wenig verwunderlich, schließlich waren zunächst nur zwei Mann aus dem einige Kilometer entfernten Ort Hohenwart nach Hinterkaifeck rübergeradelt. Vor dem Ansturm der Menge kapitulierten sie. „Mit Dreschflegeln und Heugabeln sind die Leute damals zum Hof gelaufen“, sagt Leuschner. Es müssen Dutzende Schaulustige gewesen sein – darunter vielleicht auch der Mörder? Man weiß es nicht.

Fingerabdrücke wurden damals nicht genommen. Und bei den Vernehmungen ging der Polizei ein wichtiger Zeuge durch die Lappen: Der Monteur Albert Hofner hatte noch am Nachmittag vor dem Auffinden der Leichen einen Motor in Hinterkaifeck repariert. Keine Menschenseele hatte er angetroffen, sich zwar gewundert, aber trotzdem seine Arbeit verrichtet. Fünf Stunden lang – ohne dass er wusste, dass direkt nebenan die Leichen lagen.

Das mit der seltsamen Stille auf dem Hof erzählte der 20-Jährige beim Radeln auf dem Weg zum nächsten Auftrag im Ort Gröbern den beiden Töchtern des Ortsbauernführers Lorenz Schlittenbauer, die ihren Vater informierten. Mit zwei Bauern und seinem 16-jährigen Sohn schaute Schlittenbauer nach – und stieß auf das Grauen. Obwohl Hofner ein wichtiger Zeuge war, wurde er erst 1925 vernommen. Polizei und Staatsanwaltschaft Neuburg hatten ihn schlicht vergessen.

Fehler über Fehler – „es ist damals schlicht viel zu wenig ermittelt worden“, sagt Peter Leuschner. Der ehemalige Journalist der tz hat mit dem Fall abgeschlossen – ohne ihn je ganz gelöst zu haben. Die Spekulationen dauern an. Der Mord in Hinterkaifeck – wird er ein ewiges Rätsel bleiben?

Lesen Sie am Montag Teil 2 unserer Hinterkaifeck-Serie: Mordtheorien. Wie die Polizei ermittelte.

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