München – Der Krieg in der Ukraine dauert nun bereits über einen Monat – und eine Lösung ist nicht in Sicht. Ebenso wenig ist klar, was Russlands Präsident Wladimir Putin am Ende wirklich erreichen will und wie weit er zu gehen bereit ist. Seinem Volk gibt er sich als Verteidiger der russischen Werte – andere halten ihn für machtbesessen und irrational. Klar ist: Putin verfolgt eine Ideologie. Und das schon lange.
Stefan Meister ist Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er sagt: Schon als Putin im Jahr 2000 nach Boris Jelzins Rücktritt das Amt des Präsidenten übernahm, habe er imperialistisch gedacht. „Und ab dann hat er sich immer weiter radikalisiert.“ Vor allem eine Theorie bestimmt von da an Putins Schritte: die eines Eurasischen Imperiums unter der Führung Russlands.
Als einer der Vordenker der Neo-Eurasischen Bewegung gilt Alexander Geljewitsch Dugin – der faschistische Schriftsteller wird auch oft „Putins Einflüsterer“ genannt. Meister glaubt zwar, das gehe zu weit – aber tatsächlich habe der 60-jährige Dugin auf bestimmte Teile des russischen Machtapparats Einfluss, vor allem auf Militärkreise. Seine Bücher sollen auch an russischen Militärakademien Lehrmaterial sein. „Die Überzeugung Dugins, dass Russland den eurasischen Raum beherrschen müsste und die Werte des Westens völlig verkommen sind, fließen auch stark in Putins Denken ein“, sagt Meister. Dugins Ideologie zielt auf ein „Groß-Russland“ in den Grenzen des russischen Zarenreichs oder der Sowjetunion. Bei Menschen, die sich die UdSSR wieder herbeisehnen, stößt das auf Sympathie. Allerdings ging Dugin doch vielen zu weit, als er 2014 dazu aufrief, Ukrainer zu töten – er verlor daraufhin seinen Lehrstuhl.
„Putin hat der Zerfall der Sowjetunion hart getroffen, bis heute hinterlässt das einen Phantomschmerz bei ihm“, sagt Meister. Putin hat nie ein großes Geheimnis aus seinem Weltbild gemacht – und trotzdem hat sich Deutschland immer weiter um eine enge Freundschaft mit Russland bemüht. Erst jetzt spricht Kanzler Olaf Scholz von einer „Zeitenwende“. Hätte man Putins Streben nach einem Eurasischen Reich nicht vorhersehen können? Es gab Dutzende Anzeichen. Eine Spurensuche.
Spur 1: Putins KGB-Zeit in Dresden
Putin verbringt für den sowjetischen (und bis 1991 existierenden) In- und Auslandsgeheimdienst KGB viereinhalb Jahre in Dresden – von August 1985 bis kurz nach der Wende. „Für Putin war diese Zeit in Dresden sehr wichtig“, sagt Stefan Meister. Vor allem das Ende seines Aufenthalts: Knapp einen Monat nach dem Mauerfall wird der damals 37-Jährige vor der KGB-Zentrale mit einer wütenden Menge Demonstranten konfrontiert, die mit dem Unrechtsstaat DDR abrechnen wollten. Zuvor hatten sie bereits die gegenüberliegende Stasi-Zentrale gestürmt. „Er hat mit der Waffe in der Hand um sein Leben gefürchtet“, sagt Meister. „Das ist ein wichtiger Ausgangspunkt, um Putins Ängste und seine Paranoia zu verstehen.“ Putin soll den Demonstranten entgegengetreten sein und gesagt haben: „Das ist russisches Territorium.“
Spur 2: Kosovo-Krieg – die Abkehr vom Westen
Am 12. Juni 1999 rücken tausende Nato-Soldaten in den Kosovo ein. Sie sollen den drohenden Völkermord durch den jugoslawischen Diktator Slobodan Milosevic verhindern. Russland fühlte sich als Schutzmacht Serbiens übergangen und gedemütigt. Der Kosovo-Kieg sei ein wichtiger Schlüsselmoment für Putins Abkehr vom Westen gewesen, sagt Meister. Putin kritisiert bis heute, die Nato habe ohne Zustimmung der Vereinten Nationen gehandelt und bereits damals einen „Krieg in Europa“ entfesselt. Das warf er auch Kanzler Scholz bei seinem Moskau-Besuch vor wenigen Wochen unverblümt vor. Putin versucht damit zugleich, den Angriff auf die Ukraine zu legitimieren – denn auch den Konflikt im Donbass bezeichnet Putin als „Völkermord“ an den russischen Separatisten.
Spur 3: Tschetschenien als Stimmungstest
Putins erster Krieg: Am 1. Oktober 1999 erteilt der damalige Ministerpräsident russischen Truppen den Befehl, in Tschetschenien einzumarschieren. Putin bezeichnet die Invasion – so wie jetzt in der Ukraine auch – nicht als Krieg. Er spricht stattdessen von einer „antiterroristischen Operation“. Zuvor hat es mehrere Bombenanschläge in Russland gegeben – Moskau macht tschetschenische Terroristen dafür verantwortlich. Ob das stimmt, ist bis heute umstritten. „Dieser Krieg hat Putin dazu gedient, ihm in der Bevölkerung Zustimmung zu beschaffen“, sagt Russland-Experte Meister. „Für sie war er ein harter Mann, der gegen Separatisten vorgeht.“ Die Anschläge lösen Unsicherheit unter den Russen aus, und Putin wird für seine Offensive belohnt. Ein Jahr später führt er den Krieg als Präsident weiter. Er dauert insgesamt zehn Jahre. „Diese Politik der verbrannten Erde, bei der Zivilgesellschaften vernichtet werden – die gleichen Methoden sehen wir auch jetzt in der Ukraine“, sagt Meister.
Spur 4: Siko in München: Putin droht
Es ist eine Brandrede, die den Westen schockiert: Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 wendet sich Putin demonstrativ vom Westen ab. „Niemand fühlt sich mehr sicher“, sagt er – denn die USA hätten ihre Grenzen „in allen Sphären überschritten“ und würden der ganzen Welt ihre eigenen Vorstellungen aufzwingen. Mit den USA als einziger Weltmacht, so macht Putin klar, sei es ab sofort vorbei. Meister erklärt: „Das war der Moment, in dem Putin das erste Mal offen ausgesprochen hat, was er nicht mehr akzeptieren wird und was in den kommenden Jahren kommen könnte.“ Putin warnt die Nato, weiter in Richtung Osten zu rücken.
Spur 5: Putin macht seine Drohung wahr
Ein Jahr später macht Putin seine Drohung wahr – und geht ähnlich vor wie jetzt in der Ukraine: 2008 greift Russland Georgien an. Putin ist zu diesem Zeitpunkt Premierminister. Als der ehemalige Sowjetstaat eine Nato-Mitgliedschaft beantragt, eskaliert die Lage. Russland erkennt die zwei abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien als eigenständige Staaten an und schickt Truppen nach Georgien. Der Einmarsch wird von russischer Seite „Erzwingung des Friedens“ genannt. Der Krieg dauert fünf Tage – hunderte Menschen sterben, zigtausende fliehen.
Spur 6: Der erste Angriff auf die Ukraine
Hunderttausende Ukrainer gehen Ende 2013 auf die Straße, um gegen die prorussische Regierung zu demonstrieren – sie hatte zuvor das geplante Assoziierungsabkommen mit der EU gekippt. Es ist der Beginn der Euromaidan-Revolution. Die Polizei schlägt die Proteste brutal nieder, mehr als hundert Menschen sterben. „Nach Putins Ansicht war das alles eine Inszenierung des Westens, vor allem der USA“, sagt Meister. Kurz darauf, es ist Februar 2014, annektiert Russland die Krim und heizt den Krieg in der Ostukraine an.
In seiner Rede zur Krim-Annexion greift Putin den Westen an: „Man versucht ständig, uns in eine Ecke zu drängen“, sagt er. „Aber alles hat seine Grenzen. Und im Fall der Ukraine haben unsere westlichen Partner eine Linie überschritten.“ War Putins Eskalation im Jahr 2022 hier bereits vorauszusehen? Russland-Experte Meister ist eher skeptisch. „Putin macht keine langfristigen Pläne, so funktioniert er nicht“, sagt er. „Er schafft sich Optionen und passt seine Ziele immer wieder an.“ Meister ist sich sicher: Den Angriff auf die Ukraine habe Putin erst vor kurzer Zeit geplant. „Das sieht man auch an der schlechten Vorbereitung.“
Spur 7: Syrien-Krieg sichert Verbündete
2015 greift Russland in den Syrien-Konflikt ein. „Das ist ein ganz wichtiger Punkt in Putins Entwicklung“, sagt Stefan Meister. Der russische Präsident rettet Syriens Machthaber Baschar al-Assad vor einer Niederlage und gewinnt so die Chance, im Nahen Osten mitzumischen – zugleich verkleinert er die Einflusssphäre der USA. Mit seinen Verbündeten im Nahen Osten teile Putin das Feindbild des Westens, erklärt Meister. Viele von ihnen halten sich auch heute bei einer Verurteilung Russlands wegen des Angriffs auf die Ukraine zurück. Vor wenigen Tagen erst behauptete Putin, tausende Freiwillige aus dem Nahen Osten seien dazu bereit, gemeinsam mit den russischen Truppen gegen die Ukraine zu kämpfen.