Das Ostern der Hoffnung

von Redaktion

VON KATRIN WOITSCH UND NATALIA ALEKSIEIEVA

München – Tetiana Romanovska steht in einem Supermarkt in München vor einem Regal mit Ostereiern – und könnte weinen. Es ist der Moment, in dem sie merkt, was sie alles verloren hat, seit sie aus der Ukraine fliehen musste. Sie ist seit fast sechs Wochen hier in Bayern. In diesen sechs Wochen ist so viel passiert wie sonst in Monaten. Sie und ihr Mann Elie sind bei einer Gastfamilie untergekommen, sie lernen Deutsch und suchen in München nach einer eigenen Wohnung. Sie versuchen einen Neustart zu schaffen – gleichzeitig wird ihre Heimat von Tag zu Tag mehr zerstört.

Und dann plötzlich die bunt gefärbten Supermarkt-Eier. „Ich glaube, ich hätte Ostern dieses Jahr vielleicht fast vergessen, wenn ich nicht einkaufen gewesen wäre“, sagt Tetiana. Das kann sie selbst kaum fassen. Sie hat Ostern immer geliebt. „Es ist ein Familienfest mit so vielen schönen Traditionen in der Ukraine“, sagt sie. Keine dieser Traditionen wird es in diesem Jahr geben. Ihre Mutter ist viele hundert Kilometer weit weg.

Vor zwei Jahren, als gerade die Pandemie ausgebrochen war, hat sie das erste Mal in ihrem Leben Ostern ohne ihre Mutter gefeiert. Aus Angst, sie anzustecken, war die Familie getrennt. „Damals dachte ich, das war das schlimmste Osterfest meines Lebens“, sagt sie. „Dabei ging es uns so gut. Wir waren in Sicherheit, hatten unsere Häuser, unser Leben.“

Tetiana ist 31, Englisch- und Spanischlehrerin an der Universität in Odessa – und eine Frau, die versucht, zuversichtlich durchs Leben zu gehen. An den meisten Tagen gelingt ihr das. Sie ist nach ihrem Einkauf nach Hause gefahren, hat ihre Mutter angerufen. Die lebt seit einigen Tagen in einer Flüchtlingsunterkunft in der Slowakei. Tetiana will sie an Ostern besuchen – wenn auch nichts normal und unbeschwert in diesem Jahr ist, wenigstens ihre Mutter möchte sie in den Arm nehmen können.

Sie haben sich das letzte Mal Ende Februar gesehen. Wenige Tage, nachdem in der Ukraine der Krieg begann. Tetianas Mann Elie ist Syrer. Er hat schon einmal einen Krieg erlebt, musste schon einmal seine Heimat verlassen. Seit 2014 lebt er mit seiner Frau in Odessa. Es ist Anfang Februar, als er das erste Mal zu ihr sagt: „Wir müssen fliehen.“ Tetiana glaubt nicht, dass es Krieg geben wird. „Niemand hat das geglaubt“, sagt sie. „Nicht einmal unsere Politiker.“

Am 24. Februar wird sie von einer Explosion aus dem Schlaf gerissen. Die beiden leben in Odessa nicht weit vom Flughafen entfernt, er ist eines der ersten Ziele bei den Luftangriffen. Tetiana Romanovska ruft ihre Mutter an. „Du musst jetzt zu uns kommen“, sagt sie. Die Mutter lässt den Katzen für drei Tage Futter in ihrer Wohnung. Nach drei Tagen will sie zurückkehren. Es sind Tage und Nächte in Angst. Die drei schlafen auf dem Boden im Flur, möglichst weit weg von den Außenwänden. Elie muss Tetiana nun nicht mehr überreden zu fliehen. Sie hat Angst. Aber ihre Mutter weigert sich, ihre Heimat zu verlassen. Sie will abwarten. Und hofft, dass Odessa verschont bleibt. Tetiana redet auf sie ein – vergeblich.

Ein Bekannter stellt für sie einen Kontakt zu Helfern an der ukrainischen Grenze her. Elie und sie fahren noch am selben Tag mit dem Zug dorthin. Beide haben nur einen Koffer – und sie wissen nicht, wo sie landen werden. „Ich war noch nie im Ausland“, sagt Tetiana. Ihr Reisepass enthält nur leere Seiten. Erst als sie und Elie im Auto der Helfer sitzen, erfährt sie, dass die Fahrt nach München führt. Eine Stadt, über die sie nicht mehr wusste, als dass sie in Deutschland ist.

In den vergangenen Wochen haben Tetiana Romanovska und Elie Hazeem München kennen und lieben gelernt. Es ist kein Tag vergangen, an dem sie nicht über die große Hilfsbereitschaft staunten. Neulich hat ihre Gastfamilie sogar das ukrainische Nationalgericht Borschtsch für sie gekocht. Tetiana ist jeden Tag dankbar dafür, dass sie in Sicherheit ist.

Aber die Nachrichten aus ihrer Heimat machen ihr zu schaffen. „Neulich habe ich den ganzen Tag geweint“, sagt sie. Es war der Tag, als die Bilder aus Butscha um die Welt gingen. Sie und Elie hatten geplant, nach Kiew zu ziehen. Weil sie sich dort vermutlich keine Wohnung hätten leisten können, wären sie in einem der Vororte gelandet. Vielleicht in Butscha. Die Bilder von den Leichen auf der Straße gehen Tetiana nicht mehr aus dem Kopf. „Das hätten wir sein können.“

Auch ihre Mutter ist inzwischen geflohen, als es in Odessa immer mehr Explosionen gab. Sie ist 62, spricht nur Russisch, wenige Sätze in Ukrainisch. Sie ist in der Slowakei gelandet – und ganz auf sich allein gestellt. Diesen Gedanken kann Tetiana kaum ertragen. Besonders jetzt nicht, an Ostern. „In der Ukraine kommt an Ostern immer die ganze Familie zusammen“, erzählt sie. Die meisten Menschen dort sind orthodoxe Christen. Ostern ist für sie das wichtigste Fest im Kirchenjahr. Es wird eine Woche später als in der katholischen und evangelischen Kirche gefeiert. „Am Tag vor der Osternacht haben wir uns immer getroffen und zusammen die Eier gefärbt“, erzählt Tetiana. Als sie in dem Münchner Supermarkt beobachtete, dass Menschen gefärbte Eier kauften, stutzte sie. „Das würde bei uns niemand machen – das gemeinsame Färben und Verzieren der Eier ist eine der schönsten Ostertraditionen.“

Viele Bräuche ähneln denen in Deutschland aber. In der Osternacht gehen die Familien gemeinsam in die Kirche, am Ostersonntag werden die Eier zusammen mit dem Osterbrot gegessen. Tetiana und Elie werden an diesem Wochenende mit ihrer Gastfamilie Ostern feiern. Sie werden sich die deutschen Bräuche erklären lassen – vielleicht sogar gemeinsam Eier färben. Danach werden sie in den Zug steigen und zu Tetianas Mutter Iryna in die Slowakei fahren. Ihr Ostern dort wird ohne Gottesdienst, ohne Ostereier und ohne Osterbrot stattfinden. Aber sie werden dankbar sein – dafür, dass sie gesund sind und zusammen sein können.

Tetiana weiß bereits jetzt, wie schwer der Abschied werden wird. Sie hofft, dass sie und Elie in München bald eine eigene Wohnung finden, sodass sie ihre Mutter nachholen können. Die beiden sind Lehrer, sie unterrichten auch jetzt noch in Online-Kursen Studenten der Universität Odessa. Sie wollen so schnell wie möglich auf eigenen Beinen stehen.

Auch Elie ist orthodoxer Christ. In seiner Heimat Syrien sind die Osterbräuche wieder etwas anders. Der 33-Jährige kennt sich gut aus mit Symbolik. Die Eier, die Küken – sie stehen für den Neuanfang, für ein neues Leben. Auch für Hoffnung und Zuversicht. Elie Hazeem musste sich von seinen Eltern vor acht Jahren verabschieden. Jedes Detail dieses Augenblicks, in dem er seinen Vater und seine Mutter zum letzten Mal umarmte, hat er noch in Erinnerung. Den Geruch seines Vaters, die letzten Worte seiner Mutter. Er hat auf dem Handy ein altes Foto, das ihn mit seinen Eltern zeigt, als er noch ein Kind war. „Mein Wunsch ist, dass wir eines Tages wieder gemeinsam an dieser Stelle stehen“, sagt er. Zweimal haben ihm Kriege die Heimat geraubt – die Hoffnung konnten sie ihm nicht nehmen.

Seit Kriegsbeginn ist sie von ihrer Mutter getrennt

Der Krieg nahm ihnen die Heimat – nicht die Hoffnung

Artikel 3 von 3