„Putin hat schon früher gezeigt, dass ihm an Kriegsrecht nicht viel liegt“

von Redaktion

INTERVIEW Professor Uwe Steinhoff erklärt, was im Krieg erlaubt ist – und warum in der Realität trotzdem meist alle Schranken fallen

München – Kein Tag vergeht ohne neue Nachrichten zu russischen Gräueltaten in der Ukraine. Der Kriegsethiker Uwe Steinhoff, Professor an der Universität Hongkong, erklärt, warum es sich dabei um Verbrechen handelt, unter welchen Umständen Angriffe auf Zivilisten vom Kriegsrecht gedeckt sind und wie der Umgang mit Russland und Wladimir Putin nach Ende des Krieges aussehen könnte.

Ist die Annahme naiv, es gebe auch in einem Krieg Grenzen, die man nicht überschreiten darf?

Nein, die ist nicht naiv. Bei der Theorie des gerechten Krieges geht es genau darum, dem Krieg gewisse Grenzen zu setzen. Die Kriegsethik besagt, dass unter gewissen, ausnahmehaften Umständen ein Krieg erlaubt ist. Zum einen gibt es dann das Kriegsrecht selbst. Der Umstand, dass es so weitgehend anerkannt ist, verleiht ihm auch eine moralische Kraft. Mit anderen Worten: Es gibt gute, moralische Gründe, sich auch an dieses Recht zu halten. Zum anderen erlaubt das Kriegsrecht aber auch bestimmte Dinge. Es erlaubt zum Beispiel den russischen Angreifern, ihrerseits ukrainische Soldaten zu töten. Sie dürfen sogar Zivilisten töten – allerdings dürfen sie die nicht direkt angreifen.

Wie es aber offenbar massenhaft geschehen ist.

Wenn russische Soldaten Zivilisten töten, muss es laut Kriegsrecht ein sogenannter „proportionaler Kollateralschaden“ sein. Ein Beispiel: Sie greifen eine Munitionsfabrik an und wissen, dabei kommen auch drei Zivilisten ums Leben. Aber natürlich dürfen sie auf gar keinen Fall Krankenhäuser, Wohnhäuser und ähnliche Ziele mit purer Absicht angreifen. Und schon gar nicht zu terroristischen Zwecken, um die Bevölkerung einzuschüchtern.

Man hat den Eindruck, dass Russland alle Grenzen des Kriegsrechts förmlich niedergewalzt hat.

Das sehe ich auch so, und das scheint zum großen Teil Strategie zu sein.

Was steckt dahinter?

Man will die Bevölkerung einschüchtern. Das sieht man auch daran, dass die Russen die Kadyrowiten, eine tschetschenische Söldnertruppe, eingestellt haben. Von dieser Truppe ist bekannt, dass ihnen das Kriegsrecht völlig gleichgültig ist. Man kann einen Staatsführer nicht für jedes einzelne Verbrechen seiner Soldaten verantwortlich machen. Wenn er aber Leute einstellt, von denen er weiß und vielleicht sogar will, dass sie Kriegsverbrechen begehen, dann macht das auch ihn zum Kriegsverbrecher.

Etliche Gräueltaten sind dokumentiert, von Mariupol bis Butscha. Ab wann ist der oberste Befehlshaber in der Verantwortung?

In diesen Fällen ist das ganz klar. Putin hat ja schon in der Vergangenheit gezeigt, dass ihm an Kriegsrecht nicht viel liegt. Der Tschetschenien-Krieg ist das deutlichste Zeichen. In dieser Systematik findet so etwas nicht statt, ohne dass es der Kriegsherr duldet. Putin müsste es auch gar nicht befehlen, um zum Kriegsverbrecher zu werden. Das gilt schon, wenn er es weiß und geschehen lässt.

Was sind die Ziele von Vergewaltigungen und systematischen Hinrichtungen?

Zum Teil wird das von der Führung als Strategie eingesetzt. In der Auseinandersetzung im ehemaligen Jugoslawien gab es systematische Vergewaltigungen mit dem Ziel der ethnischen Säuberung. Man wollte, dass die Leute einer Ethnie, die man nicht haben wollte, dieses Territorium verlassen. Dafür war Terror das Mittel der Wahl, sei es durch Töten oder Vergewaltigen. Auf der anderen Seite gibt es das Phänomen, dass im Krieg gerade bei undisziplinierten Armeen alle Schranken fallen und sozusagen das Tier rauskommt. Das ist weiß Gott nichts Neues.

Es gibt Appelle, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof zu stellen. Schreckt ihn das ab?

Ich habe den Eindruck, dass er mit dieser Art der Gegenwehr nicht gerechnet hat, weder mit der militärischen noch mit der relativen Deutlichkeit des Westens. Ich glaube aber, dass er als Kriegsverbrecher bezeichnet wird, wird ihm völlig gleichgültig sein.

Und was ist mit dem Gerichtshof als Institution? Der Forderung, sich dort verantworten zu müssen?

Ich glaube, das ist ihm egal. Ich kann nicht sehen, dass ihm das etwas ausmacht. Man muss allerdings dazusagen, dass auch die Amerikaner von dieser Institution nicht allzu viel halten.

Ist es unter diesen Umständen vorstellbar, dass Russland so bald in die Weltgemeinschaft wieder aufgenommen wird?

Ich halte das für hochgradig unwahrscheinlich. Zumal jetzt gewisse Prozesse in Gang gesetzt sind. Wenn man erst mal unabhängig ist von russischem Öl oder Gas, gibt es keinen Grund mehr, dahin zurückzukehren. Das wird auch die Bevölkerung nicht sonderlich schätzen.

Auch in einer Zeit nach Wladimir Putin?

Wenn Putin und die ganze Junta weg wären, dann wäre es etwas vollkommen anderes. Unser Konflikt ist ja nicht mit dem russischen Volk. Wobei es noch andere Verbrecher auf der Welt gibt, und mit denen sprechen wir auch. Es wäre auch naiv zu sagen, das dürfen wir nicht machen. Aber man muss sich schon Gedanken machen, wie man mit diesen Leuten umgeht.

Wie könnte nach einem Kriegsende der Umgang mit Russland aussehen?

Es gibt das Phänomen von Diktaturen, bei denen man vor der Überlegung steht, wie man ihnen den Übergang zur Demokratie ermöglicht. Zum Beispiel in vielen lateinamerikanischen Staaten. Oft hat sich herausgestellt, dass es leichter geht, wenn man große Konzessionen an die ehemaligen Schlächter macht: Wir stellen Euch nicht vor Gericht. Dann sind die nicht so sehr versucht zu sagen: Na ja, wenn ich sonst ins Gefängnis komme, bleibe ich lieber an der Macht. Das heißt nicht, dass man diese Verbrechen entschuldigt. Aber man entscheidet sich dafür, diese Verbrechen dann doch nicht zu verfolgen – durchaus auch aus moralischen Gründen, weil man die Situation für alle besser machen will.

Interview: Marc Beyer

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